1 - Eine bekloppte Annonce

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„Hey Sandy, sieh dir das mal an. Klingt zwar verrückt, aber ich finde, du solltest dich unbedingt für diesen Job bewerben."

Celines Begeisterung riss mich aus meiner tristen Grübelei. Ich sah von der Zeitschrift hoch, die ich durchblätterte. Bisher hatte ich nicht die Energie aufgebracht, auch nur einen einzigen Artikel zu Ende zu lesen.

Seit ich vor einigen Monaten meinen geliebten Job in der Bibliothek verloren hatte, schlief ich nachts nicht gut. Es gibt kaum etwas Frustrierenderes, als nach einer Pandemie, wenn alles wieder zu laufen beginnt, weiterhin arbeitslos zu sein. Ganz abgesehen davon, dass mich Simon vor einigen Wochen sitzen gelassen hatte. Nach diesem zusätzlichen Schlag fühlte ich mich vollends wie ein Schiff, das hilflos ohne Segel und Kompass auf dem Ozean treibt.

„Erde an Sandy, bist du wach?" Celine fuchtelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.

„Huh?"

„Hör zu. Dieser Kerl hier sucht Experten für ungewöhnliche Erscheinungen. Ich wette, das ist seine beschönigende Art zu sagen, dass er jemanden braucht, der für ihn ein Gespenst vertreibt. Was meinst du?" Sie streckte mir ihr iPad in einem Winkel vors Gesicht, aus dem ich garantiert nichts lesen konnte.

„Gib schon her." Ich schnappte mir ihr glänzendes neues Spielzeug, lehnte mich auf dem Sofa zurück und begann, die Seite zu studieren, welche meine Wohnpartnerin so in Aufregung versetzte.

Celine war so auf meine Reaktion konzentriert, dass sie darüber vergaß, ihren Schokoladekuchen aufzuessen. Dieser Versuchung konnte ich natürlich nicht widerstehen. Mit meinem eigenen Löffel stach ich mir blitzschnell ein großes Stück ihres Desserts ab und stopfte es mir in den Mund, bevor ich mich wieder dem Tablett zuwandte. Ihre lautstarken Proteste überhörte ich geflissentlich.

Der Artikel, der mehrfach von farbenfrohen Werbebildern für Ferien in Griechenland, elektrische Zahnbürsten und Vitamin-Tabletten unterbrochen wurde, handelte von einem Dorf in der Mitte von Nirgendwo. Ein idyllischer Ort, wenn ich mich richtig erinnerte. Angeblich wurde das dortige Schloss von Gespenstern oder Geistern heimgesucht. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es da ein Schloss gab. Der Journalist erwähnte ebenfalls, dass der Besitzer des Gebäudes eine erhebliche Summe für die Aufklärung des Falls ausgesetzt hatte.

Ich musste zugeben, dass das Schloss auf dem mitgelieferten Bild imposant aussah, hübsch zurechtgemacht mit weiß gekalkten Wänden und rotem Ziegeldach. Viel zu pittoresk, um echte Geister zu beherbergen.

„Klingt für mich wie ein Fall von ausgesprochen schlechtem Sensationsjournalismus." Ich scrollte zurück zum Anfang des Artikels. „Niemand sucht in einer zweitklassigen Online-Zeitschrift nach einem GSI."

„Was ist ein GSI?" Celine runzelte die Stirn, während sie den Rest ihres Kuchens verschlang.

„Ein Geist-sensitives Individuum. Und nur damit du es gleich weißt, nein, ich habe nicht vor, mich für den bekloppten Job zu bewerben. Ich jage keine Gespenster."

„Sandrine." Ich hasste es, wenn Celine meinen vollen Namen verwendete. Er kündigte jeweils an, dass sie ihre Stimme der Vernunft einsetze und mir ins Gewissen zu reden versuchte. „Du sitzt jetzt bereits seit Monaten hier herum und bläst Trübsal. So geht das nicht weiter. Du brauchst den Job, das Geld und etwas Abwechslung. Zudem wissen wir beide, dass du die notwendigen Fähigkeiten besitzt. Weshalb willst du es nicht zumindest versuchen?"

„Weil ich mich in den letzten vierzehn Tagen bereits für mindestens ein Dutzend Stellen beworben habe, davon alleine fünf in den letzten vierundzwanzig Stunden." Ich schnaubte und reichte ihr das iPad zurück. „Bei so vielen Bewerbungen muss ich doch mal irgendwo Erfolg haben. Und ich spreche da von richtigen Jobs, nicht von irgendwelchen dummen Scherzen eines beknackten Möchtegern-Journalisten."

Gespenster jagen. So etwas Dummes. Ich würde wohl nicht...

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt