sehnsucht

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Es war kein Abschied für immer gewesen, nur für ein paar Tage. Es hatte nicht einmal eine Umarmung gegeben, weil sie Umarmungen nie gemocht hatte, weil sie die Nähe der Menschen nie gemocht hatte. Erst als sie ihn besser kennengelernt hatte, war ihr Wunsch nach einer Umarmung herangewachsen. Sie wünschte sich Umarmungen, mit ihm, nur mit ihm, die Nähe der anderen war ihr noch immer unangenehm, aber wie es schien, konnte sie sich von dieser alten Gewohnheit, gar dieser Lüge, nicht mehr distanzieren. Und so verließ er sie ohne Umarmung. Und so verließ sie ihn ohne Umarmung.

Bereits während des Abschiedes hatte sie sich nach einem Wiedersehen gesehnt, nach mehr von ihm. Denn in den letzten Tagen waren so viele Worte zwischen ihnen ungesagt, so viele Berührungen, die sanften und zufälligen, aber auch die heimlichen und stillen, unkommentiert geblieben. Sie ließen zu viel Platz für Interpretationen und Wünsche und Träume, dass es ihre Gedanken wirr machte.

Da waren schon immer so viele Szenarien in ihrem Kopf gewesen, weil ihre Fantasie wie eine Blume im Frühjahr aufblühte. Und so wurden ihre Gedanken immer größer und lauter und voller. Sie verfolgten sie, holten sie ein, überrannten sie, bis sie nicht mehr wusste, was sie fühlen sollte.

Emotionen regneten auf sie herab. Gefühle, die sonst erst im Stillen aufkamen, wenn es draußen dunkel wurde und die Einsamkeit bereits an ihrer Tür und den großen Fenstern nagte.

Schmerz. Sehnsucht. Liebe.

Sie hatte gewusst, dass man diese Gefühle nicht nur nachts empfand, wenn die Dunkelheit still und leise und allein wurde. Immer, überall, zu jeder Tageszeit kamen und gingen die Gefühle wie ungebetene Gäste, klopfen an die Türen der Menschen und öffneten sie am Ende selbst. Sie schrieben Geschichten und Romane, Tragödien und Gedichte und doch war es ihnen nie genug.

Am liebsten hätte sie für Stille gesorgt, doch so mutig war sie nie gewesen.

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