SIEBENundDREIßIG Blumen

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Einer meiner schönsten Ausflüge und doch eine riesige Herausforderung. Der botanische Garten. 

Er sah mich ständig mit Büchern in der Hand. Ich las alles Mögliche, aber fachspezifisch total gerne Biologie, Pflanzenheilkunde und Botanik. Ich verband diese Thematiken mit meiner Mutter, erinnerte mich an unsere Erkundungen, wie sie mir die Namen und Eigenschaften der Pflanzen freudig erzählte und ich förmlich an ihren Lippen klebte. Nachdem ich den Schmetterlingsboten traf, tastete ich mich sogar wieder an die Zoologie heran. 

Da er mich dauernd schmökernd mit den Büchern erblickte, überraschte er mich mit dem Ausflug in den Botanischen Garten. 

Dieser erinnerte mich stark an das damalige Geschehnis mit meiner Mutter, doch ich versuchte standzuhalten, versuchte mich abzulenken, auf meine Mutter zu hören, wieder zurück zu mir zu finden. 

Und einen Weg zurück zur Natur, mit der ich einst – bis damals – so verbunden war und wenn ich ehrlich war, immer noch. 

Zur Ablenkung begann ich die wunderschönen kirschroten Beetrosen vor uns zu zählen. 

»Ich dachte, du freust dich.« 

Bis siebenunddreißig kam ich, ehe er mich unterbrach, doch auch dann hielt ich meinen Blick gesenkt. Was ich antworten sollte, wusste ich nicht. War dies der richtige Moment, es ihm zu erzählen? Ich hatte nach wie vor Sorge, ihn zu verlieren. Mehr als das. 

Wie würde er darauf reagieren? 

»Ich finde es wunderschön. Ich betrachte die kirschroten Beetrosen.« 

»Ach komm. Ich kenne dich mittlerweile mehr als gut.« Er grinste mich frech an, das spürte ich und sowohl er, als auch ich wussten, dass er recht hatte. 

»Ich weiß nicht, ob jetzt ...« Ich stoppte. Es fiel mir unglaublich schwer. 

»Ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist?! Hm?« 

Verdammt, der Typ kennt mich wirklich fast in- und auswendig, dachte ich. Nun grinste ich. 

»Ich habe Angst.« 

»Musst du nicht.« 

»Das weißt du nicht. Obwohl du schon so viel mitgemacht hast und glaube mir, ich bin dir unglaublich dankbar ... Aber hiervon weißt du noch nichts ...« 

»Aber möchtest du, dass es dich unser restliches Leben von innen her auffrisst? Ich möchte meine fröhliche Begleiterin.« 

Wieder sein freches, so süßes Grinsen überkam ihn. Dieses Mal konnte ich es heraus hören und mir vorstellen. Obwohl wir schon lange ein Paar waren, – ebenfalls ein gewöhnungsbedürftiger Begriff für mich, – blieben wir bei Begleiter und Begleiterin, das gefiel uns. 

»Nein, das möchte ich nicht!« 

»Ok.« 

Ich brauchte eine Weile ... Dann wagte ich es. Von diesen bezaubernden Blumen wendete ich mich ab, ihm zu und er bekam seine Begleiterin zu Gesicht, so wie er sie selten zu sehen bekam. Aufgelöst mit Tränen über dem Gesicht laufend, sie versuchte ihnen mal nicht Einhalt zu gebieten. Sie ließ es einfach zu. Sie zeigte sich, wie sie sich fühlt. Endlich. 

Er kam auf mich zu, wobei er mir zuflüsterte, dass ich mir Zeit lassen soll und ich ihm alles anvertrauen könne, er mich nicht abweisen würde. Meine Angst war trotzdem da. Mein Körper bebte. 

Doch ich fasste meinen Mut zusammen, denn er hatte recht. 

»Ich war acht Jahre alt. Meine Mutter und ich waren auf einer Wiese. Ich spielte dort für mich ... Sie saß auf einer gelben Picknickdecke. Ich folgte einem Schmetterling und ...« 

»Das hört sich schön an.« 

»Ja, aber dann ...« Ich schaute in die Ferne, im Inneren das kleine Mädchen, welches von der Wiese ihre Mutter aus erblicken wollte, ... doch diese war nicht mehr da. 

»Was war dann? Du kannst es mir anvertrauen.« 

»Ich bin schuld.« 

»Woran?« 

Und dann erzählte ich es ihm, alles von jenem Tag und mehr. Es brach hinein. 

Das kleine Mädchen, das anstelle ihrer Mutter diese abscheuliche Picknickdecke entdeckte, nahm sich ihren Raum. Die Achtjährige, die nur wieder mit ihrer Mama nach Hause wollte ... Anstelle dessen dort bis in die Nacht verharrte ... An dem Fleckchen, an dem sie sich so verloren gefühlt hatte, an dem sie auf einmal alleine war ... Als sie irgendwann von fremden Menschen weggezerrt worden war ... Zu einem Mann, den sie nur, wenn überhaupt dreimal vorher sah, ... aber nicht kannte. Dieses Mädchen, welches ständig aus Angst in Schockstarre geriet, wollte und brauchte endlich ihren Ort ... Den nahm sie sich ... Um aus dieser Welt zu entkommen, in die sie einst hineingerissen wurde ... 

Ich weinte und er hielt mich einfach. Entgegen meiner Sorge ging er nicht. Er nahm mich einfach fest in dem Arm, wiederholte immer wieder, dass es nicht meine Schuld war, dass ich nichts dafür kann, auch ihm kullerten Tränen über sein Gesicht. 

Als wir uns beruhigten, blieben wir noch still dort sitzen und betrachteten die Natur vor uns. 

Plötzlich tauchten Schmetterlinge auf, die sich auf die kirschroten Blumen setzten. Gelb und rot. Ungläubig schaute ich ihn an, weil ich dachte, es mir einzubilden, doch sein Blick verriet mir, dass er das Gleiche erblickte. 
Doch er sah zudem geschockt aus. 

»Ich verstehe es jetzt mit dem Notizblock. Tut mir leid.« 

EntpuppungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt