„Die Welt ist bunt. Das ist Fakt. Trotzdem sitze ich in einem Raum vor einer weißen Wand mit einem weißen, graukariertem Block und einem schwarzen Stift.“, notiere ich wahrheitsgemäß auf dem Block. Ich höre leise Schritte näher kommen, aber blicke nicht hinüber, um zu sehen, wer es ist. Er lässt sich neben mir auf dem Boden nieder. Sein Pullover streift sanft meinen Arm. Eine Berührung, die die Einsamkeit in mir schwanken lässt.
„Schreibst du wieder deine Gefühle auf?“, fragt seine vertraute Stimme. Mir fällt das raue Kratzen in seiner Stimme auf, das entsteht, wenn er versucht ruhig und leise zu sprechen. „Ja. Ich versuche es zumindest.“ „Aber?“. Fragt er und ich spüre, dass er seinen Kopf zu mir dreht, als sein Atem mich berührt. „Ich schreibe die Gefühle dieser weißen Wand auf.“ „Wie fühlt sich denn die weiße Wand?“ Ich sehe kurz auf den Block. Dort steht keine Antwort. Ich sehe zurück zur Wand. „Sie fühlt nichts. Weiß. Leer. Unberührt. Da ist einfach nichts.“ Er atmet hörbar aus. Guck nochmal genau hin“, fordert er mich auf. Ich drehe meinen Kopf zu ihm. Unsere Blicke treffen sich.
„Ist das dein Ernst?“, frage ich diesmal. „Ja. Los sieh genauer hin!“, sagt er zielsicher. Ich wende meinen Blick zurück zur weißen Fläche. „Sie fühlt sich falsch. Als wäre sie überall fehl am Platze. Überflüssig. Ungewollt. Ist sie allein, ist sie einsam. Ist jemand bei ihr, will sie allein sein. Meine Stimme wird mit jedem Wort brüchiger und die ersten Tränen laufen wie ungebetene Gäste zurückhaltend über meine Wangen. Er räuspert sich: „Weißt du, weiß ist nicht nichts. Weiß ist unheimlich viel. Weiß entsteht, weil das Licht an dieser Stelle alle Farben reflektiert. Die Wand fühlt nicht einfach nichts. Sie fühlt zu viel.“ Er macht eine Pause und sieht wieder zu mir. „Aber wir reden gar nicht von der Wand, sondern von dir, oder?“ „Ja“, gebe ich tonlos zurück. Plötzlich sind es keine einzelnen Tränen mehr. Wortlos zieht er mich in seine Arme und streicht beschützend über meinen Rücken, während sich alle Gefühle aus meinem Kopf waschen.
DU LIEST GERADE
Oneshots ~ An dich Realität
PoetryKurzgeschichten an dich Realität, weil wir dich alle so lieben. Platz 22 #Kurzgeschichten 4.Juni 2020