Dorothea saß in ihrem alten Sessel, der mit den gelben Blumen. Der Stoff war schon so alt, dass die Blätter von der Sonne ausgeblichen waren. Auch heute erhellten goldene Strahlen das kleine Wohnzimmer, warfen Schatten in die Morgenluft. Aus dem großen Fenster drang frische Luft. Obwohl Dorothea schon lange lebte, konnte sie noch hervorragend riechen: die Blumen vor den Fenstern, den frisch gemähten Rasen, den Geruch von Essen nebenan. Nicht bei ihr. In dem Haus auf der anderen Seite. Nur eine dünne Wand trennte die Leben der zwei Familien. Manchmal hörte Dorothea die Kinder lachen und toben, manchmal war alles still und manchmal wurde Klavier gespielt. Dann lehnte sie sich zurück in ihren Sessel, schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie ähnlich furchtbar sie früher selbst gespielt hatte. Manchmal hörte sie aber auch die Erwachsenen streiten. Sie hatte sie nie gesehen, höchstens im Garten, im Sommer, aber dennoch wusste sie viel von der fremden Familie. Die Mutter war Ärztin und fuhr oft erst spät nachts los zur Arbeit, ihre Lieblingsfarbe war blau (sie beschwerte sich immer, dass ihr Mann ihr nie blaue Blumen mitbrachte, er war Gärtner). Die Kinder hießen Tom und Julia, ihre Namen waren schon oft durch das ganze Haus geflogen, zu laut.
Nur nachts war es still. Wenn der Mond alles in Ruhe getaucht hatte, nur er der Mittelpunkt war, er und seine Begleiter: die Sterne. Ob Leopold wohl unter ihnen war? Dorothea stellte sich oft auf ihren kleinen Balkon, zum Mond hinaufschauend, in ihrem dünnen Schlafkleid, dass im Wind hin und her flatterte. Sie blickte dann hinauf und versuchte, ihren Mann unter den unzählbaren kleinen Lichtpunkte auszumachen. Aber es war unmöglich. Es starben einfach zu viele Menschen in dieser Welt.
Wenn sie so in der Nacht stand, trauerte ihr Herz, Tränen kullerten ihr über die faltigen Wangen, flogen mit dem Wind davon oder Leopold küsste sie ihr von den Augen. Sie spürte immer, wenn er da war. Dann war es nicht ganz so schlimm und Bilder von gemeinsamen Reisen, Nächten und Tagen erschienen in ihrem Kopf. Sie glaubte oft, ihn vor sich zu sehen und dann griff mit zittriger Hand nach ihm, nur um ins Nichts zu greifen.
Wie sie jetzt so in ihrem Sessel saß, überkamen sie lauter schöne Momente aus der Vergangenheit. Sie glaubte, den Sand von Stränden und Wüsten zu spüren, in denen sie gewesen waren, den Wind in den Haaren, Regentropfen auf ihrer Haut und Sonne und Liebe. Ganz viel Liebe. Tiefe Liebe, die 59 lange Jahre gehalten hatte.
Und dann, plötzlich, wehte der Vorhang auf und Leopold kam. Er kam auf sie zu, und Dorothea konnte nichts tun, war zu überrascht, um sich zu bewegen. Sie merkte, wie ihre Augen müde vor Erleichterung wurden, dann schloss sie sie. Aber sie konnte alles noch klar sehen: das Zimmer. Leopold. Ihren geliebten Mann. Er nahm ihre Hand, nahm sie in den Arm. Ihre grauen Augen verschmolzen miteinander, seine Haare wuschelten im leisen Wind, den er mitgebracht hatte.Und dann sprach er. Als seine vertraute Stimme ertönte, zerriss es seiner Frau fast das Herz, ein Loch schloss sich, aber nicht ganz. Was wenn das alles nicht echt war? „Es ist echt, geliebte Dorothea." Er sprach ihren Namen mit so viel Liebe aus. Dorothea wollte alles sagen, sagen, wie sehr sie ihn vermisst hatte, wie oft sie an ihn gedacht hatte, wie wunderbar es war, dass er jetzt da war, hier bei ihr. Aber sie konnte nicht sprechen, war zu erleichtert und glücklich und sprachlos. „Komm mit mir, wir bleiben für immer zusammen. Ich habe dich so sehr vermisst." Er zog sie sanft vom Sessel hoch, der hereinscheinenden Sonne entgegen. Dorothea spürte einen kurzen Stich, als hätte sie etwas verloren. Als sie zurückblickte, sah sie sich. In ihrem Sessel, von der Sonne liebevoll beschienen, wie eingenickt.
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Short StoryHier veröffentliche ich meine Kurzgeschichten, die alle mit Liebe entstanden sind. Falls ihr Anmerkungen habt oder auch Fragen, könnt ihr gerne eure Kritik da lassen oder auch einen Kommentar. Ein Vote wird auch gerne gesehen ^^ Aber jetzt viel Spa...