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5 - Komische, reiche Menschen

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Okay, ich war noch nie in London, aber ich habe mal eine Dokumentation über die vielen Parks dort gesehen.

Für einen kurzen Moment überlege ich, ob das Tor, durch das ich gerade gegangen bin, vielleicht eine Art Portal oder sowas ist und ich nicht länger in den Staaten, sondern direkt in solch einer europäischen Parkanlage bin.

Der Rasen ist sattgrün und es scheint, als würde er täglich mit einer Nagelschere und einem Lineal daneben geschnitten werden. Fehlt nur noch ein Betreten verboten-Schild.

Der weiße Kies des breiten Weges knirscht unter meinen Sneakers. Am Rand stehen in regelmäßigen Abständen kleine Lampen, die nachts vermutlich für Orientierung sorgen und bestimmt alle auf die Sekunde genau gleichzeitig eingeschaltet werden.

Gute Idee, denn allein um zu dem Haus zu kommen, braucht man wahrscheinlich eine Landkarte, ich sehe auf jeden Fall keins von hier aus. Vielleicht ist es hinter den Bäumen dort.

Ein ungewöhnliches Summen lässt mich den Kopf etwas recken und ich entdecke ein weißes Golfcart – oder wie auch immer diese Dinger heißen, das den Weg entlang auf mich zugesaust kommt.

Kurz vor mir kommt es zum Stehen und ein älterer, hagerer Mann in einem schwarzen Anzug beugt sich heraus, um mir seinen Arm entgegenzustrecken.

Abweisend verschränke ich die Hände vor der Brust.

Was soll das denn jetzt? Soll ich ihm raushelfen? Und wer trägt überhaupt morgens kurz nach Sonnenaufgang schon einen Anzug?

„Der Schlüssel?", verlangt er und ich mache einen Schritt zurück.

Ich denke nicht, Freundchen.

Der Typ, dem ich den Schlüssel letzte Nacht abgenommen habe, sah komplett anders aus als der hier. Woher weiß ich überhaupt, dass ich hier richtig bin?

„Sie sehen nicht aus wie der Besitzer", pampe ich den Alten an.

Er lässt seinen Arm sinken und blickt mich skeptisch an. „Mr. de Koning, jr. ist gerade unpässlich."

De Koning Junior? So sah der auch aus. Kann jemand noch mehr Pech mit seinem Namen haben? Und unpässlich trifft es ebenfalls ganz gut, so voll, wie der letzte Nacht war.

„Wie ist das Kennzeichen?", frage ich herausfordernd.

Ohne zu zögern nennt mir der Mann das richtige Kennzeichen und auch die Farbe des Autos und ich reiche ihm widerwillig den Schlüssel.

„Mr. de Koning, jr. ist 1,88m groß, hat braune Haare, blau-graue Augen. Gestern Abend trug er eine blaue Jeans und ein weißes Hemd dazu", fügt der Mann als Beweis hinzu und lässt den Schlüssel in die Tasche seines Jacketts gleiten. „Wen darf ich als Finder nennen?"

„Schon gut", winke ich ab und drehe mich um, um wieder zum Eingangstor zurückzugehen.

„Ist ‚Gut' der Vor- oder der Nachname?", ruft er mir lachend hinterher.

„Natürlich der Nachname", grinse ich über meine Schulter. „Und sagen Sie dem Jungen, dass er das nächste Mal besser gleich mit einem Taxi kommen soll, denn auch ein Bentley gewinnt nicht gegen einen Baum oder eine Mauer."

„Ich richte es ihm aus, Mr. Gut", ruft er mir nach, bevor ich die Tür aufziehe und das Grundstück wieder verlasse.

Komische, reiche Menschen.

•••

Als ich am späten Nachmittag nach meinem wohlverdienten Schlaf erwache, sehe ich auf meinem Handy eine Nachricht von meinem Boss.

Matt

Auto ist weg.

Hab den Schlüssel
heute früh abgegeben.

Hab die Kameras
gecheckt. War wohl so
ein alter Knacker, der
es geholt hat.

Dem habe ich den
Schlüssel auch gegeben.
Wir haben Kameras?
Alter, wieso habe ich
dann so eine Aktion
gemacht?

Weil du ein netter Kerl
bist und weil wir nur
vorne an der Einfahrt
eine haben. Wenn der
Alte also das Auto
aufgebrochen hat,
haben wir dafür keine
Beweise.

Hatte er einen schwarzen
Anzug an?

Jup.

Dann sind wir safe. Der
war es.

Gab es Finderlohn?

Nope.

Wieso nicht?

Hab nicht gefragt und
er hat's nicht angeboten.

Du bist zu nett.

Sag das mal den
Beschwerdegästen ;)

Bis Freitag, Julian.

Bis dann.

Müde lasse ich das Handy neben mir aufs Bett fallen und reibe mir über die Augen.

Ich und nett? Wohl eher nicht.

Da es Sonntag ist und ohnehin schon zu spät, noch irgendwelche größeren Sachen zu unternehmen, schnappe ich mir meine Kopfhörer, ziehe meine Laufsachen an und gehe eine Runde joggen.

•••

Später am Abend steige ich frisch geduscht und satt in mein Auto und mache mich auf den Weg zu meinem Sonntag bis Donnerstag-Job.

„Hi Celia", begrüße ich die junge Frau am Empfang des Hotels, als ich auf den Tresen zukomme und gerade den letzten Knopf meiner Weste schließe.

Der Dresscode im Dogma ist mir eindeutig der Liebere, aber der Nachtdienst, den ich an den anderen Tagen im Hotel schiebe, bringt eindeutig das stabilere Gehalt ein. Zwar zahlt Matt auch ganz gut im Rahmen seiner Möglichkeiten, aber den Großteil macht das Trinkgeld aus und das ist eben sehr abhängig von den Launen der Gäste.

„Noch irgendwelche besonderen Dinge, die ich wissen muss?", erkundige ich mich.

„Nein", lässt Celia mich wissen. „Anreisen sind alle da, Weckrufe habe ich eingetragen. Im Restaurant ist auch keiner mehr, sollte also eine ruhige Nacht werden."

„Ich lass mich überraschen", lächle ich und verabschiede sie in ihren Feierabend.

Als ich ganz allein bin, lasse ich mich lässig auf den Stuhl im hinteren Bereich der Rezeption fallen und klicke mich durch die Hotelsoftware.

Der Trubel im Dogma ist mir im Vergleich zu diesem Job auch lieber, denn die Zeit geht viel schneller um, wenn man viel zu tun hat. Hier sitze ich meistens herum, mache meine Aufgaben, für die ich jedoch die ganze Nacht mehr als genügend Zeit habe, und begegne so gut wie niemandem.

Nach Abschluss meines Studiums vor einem Jahr hätte ich den Job eigentlich kündigen können, um mal wieder so etwas wie einen vernünftigen Schlafrhythmus oder auch ein soziales Leben aufzubauen, aber oh Wunder! Mit einem abgeschlossenen Studium hat man nicht sofort einen Job und unfassbar viel Geld.

Hier kenne ich zumindest meine Aufgaben und kann mich in aller Ruhe nach etwas Passendem umsehen, ohne in finanzielle Notlagen zu geraten. Zwar ist kein Urlaub oder größere Anschaffungen drin, aber wenigstens habe ich ein Dach über dem Kopf, Essen im Kühlschrank und sogar ein eigenes Auto.

Wenn auch keinen Bentley.

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