Chapter 1

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An diesem Morgen zogen dichte Nebelschwaden übers Feld.
Ich nahm nichts weiter wahr, als die kühle, feuchte Luft, die mich umhüllte, während ich zu meinem Wagen lief. Der Morgen fing genauso beschissen an, wie der Abend geendet hatte. Immer wieder die gleichen Diskussionen, die uns beide zur Weißglut brachten, aber keiner von uns würde nachgeben. Wir waren beide stur und beharrlich. Jetzt, wo ich in der leitenden Position auf unserer Rettungswache war, wurde es zunehmend nur noch schwieriger. Es gab kaum noch Raum für uns zwei. Sie wollte mehr und ich wusste es auch, aber für mehr war ich gerade einfach nicht bereit. Es war schon seit einigen Monaten problematisch und ehrlich gesagt, es war gerade nicht meine Priorität. Ich wollte einfach etwas anderes, ich wollte mehr. Ich wollte reisen, wollte die Welt sehen, verschiedene Kulturen kennenlernen und nicht nur Zuhause bleiben, bei ihr.
Bei uns war die Luft schon sehr dünn. Sie hatte vor einigen Monaten ihren Job gekündigt. Klar, Depressionen sind scheiße, aber nichts dagegen tun? Keine Option, zumindest für mich.
Wie oft hatte ich ihr gesagt, dass ich eine gute Freundin habe, die Therapeutin ist. Sie würde ihr helfen, aber selbst das war nicht gut genug.
Der Streit vom gestrigen Abend ging mir nicht aus dem Kopf. Von nichts kommt nichts. Klar, sie sollte sich ausruhen und zur Ruhe kommen, um neue Kraft schöpfen zu können. Aber auch ich war bereits an meiner Grenze angekommen. Ich arbeitete mehr im Monat, als ich sollte, hatte mehr Überstunden, als erlaubt und führte zusätzlich noch einige Erste-Hilfe-Kurse an. Mehr war einfach nicht drin. Zusätzlich musste ich den Haushalt schmeißen, kochen und einkaufen. Kein Wunder also, dass es bei uns nur noch am Kriseln war.
Ich musste mich fragen, ob es nicht besser war, die Beziehung zu beenden. Die Gedanken kamen mir in der letzten Zeit immer häufiger. Doch es fühlte sich so an, als würde ich sie alleine lassen und damit kam ich nicht gut klar.
Ihre Familie würde sich einen Scheiß um sie kümmern, also blieb nur ich. Ihre Mutter, eine drogenabhängige Frau, die ihr Leben komplett verworfen hatte, wollte unbedingt ein Teil unseres Lebens sein. Sie kam fast jeden Tag zu uns, holte sich Geld, dröhnte sich zu und gut wars. Für die Beiden, ein super Alltag. Für mich einfach unverständlich.
Ihr bester Freund, der im Übrigen auch immer häufiger bei uns übernachtete, bediente sich mittlerweile auch einfach nur noch, ohne mich zu fragen. Mein Geld war ihr Geld. Netter Spruch wären wir verheiratet, aber wir sind es nicht.
All diese Themen brechen in jedem Streit wieder aus und wir schaukeln uns immer wieder hoch.
Ich musste unbedingt den Kopf frei kriegen. Wie soll ich mich auf meinen Job konzentrieren, wenn ich die ganze Zeit nur Ärger habe?

Fast an der Wache angekommen, hielt ich an einer Tankstelle an, um mir Zigaretten zu holen. Und da saß sie, dicht bis obenhin, wahrscheinlich auch besoffen und natürlich, mein Handy würde wohl jeden Augenblick klingeln, ich würde abnehmen und Tiara würde mir sagen, dass ich ihre verdammte Junkiemutter nach Hause karren soll. Innerlich verdrehte ich schon die Augen, doch heute würde ich es nicht tun. Ich hatte vielleicht zwei Stunden Schlaf, musste heute 15 Std Minimum arbeiten und wollte wirklich nicht noch mehr Stress.

Der nette ältere Herr gab mir meine Zigaretten, einen Kaffee und deutete auf Marion. Ich nickte ihm zu und ging dann zurück zu meinem Wagen. Einen Moment lang wollte ich gehen, allerdings wäre es unethisch und gegen meinen Kodex, also entschied ich mich doch dazu auszusteigen, um sie in meinen Wagen zu hiefen.

Zwei jüngere Männer kamen mir zur Hilfe. Wir legten sie auf die Rückbank meines Wagens. Ich bedankte mich und stieg dann wieder ein. Sie murmelte irgendwas vor sich hin, während ich die letzten Meter zur Wache fuhr. Ich hatte keine Zeit mehr und musste auf jeden Fall zuerst dort hin, bevor ich sie Zuhause absetzen konnte.

Zwei Kollegen kamen auf mich zu und begrüßten mich herzlich. Ja, hier fühlte ich mich wohl. Sie waren für mich ein wichtiger Teil meines Lebens.

„Hey Shane, wie geht's, wie steht's?"
„Wie immer danke und dir?"
„Endlich Feierabend", jubelte er und freute sich. Na danke auch.
Ich schaute ihn böse an und umarmte ihn kurz, bevor ich nach oben stiefelte um mich umzuziehen.

Ich trat aus der Umkleide, als mich direkt meine Praktikantin überfiel. Sie hatte letzte Woche die Prüfung verhauen und ich hatte ihr aufgetragen, mir bis heute ein paar Fragen zu beantworten, die ich ihr im Laufe der Woche gestellt hatte. So hatte sie Zeit, zu recherchieren und sich die Dinge zu merken, die sie verhauen hatte.

„Ich wäre soweit, falls du Lust hast?"
Ich nickte ihr zu und hielt ihr die Tür zur Küche auf.
Wir setzten uns an den Tisch.
Sie war nervös. Eigentlich war sie echt gut und ich habe hohe Erwartungen an sie. Aber sobald es in eine Prüfungsphase geht, schaltet sich bei ihr alles ab und sie bekommt Panik.
Ich legte meine Hand auf ihren Arm, um ihr zu signalisieren, dass sie sich beruhigen musste. Sie straffte sich einmal, nahm allen Mut zusammen und ratterte alle Fragen runter, die ich ihr gestellt hatte. Bei einigen Aspekten musste ich noch nachhelfen, aber grundsätzlich war es erstaunlich gut. Ich würde sie wohl heute mit auf den Wagen nehmen, um sie bei der Umsetzung zu beobachten.
Zumal, sie wollte Notfallsanitäter werden. Dazu gehörte einfach eine Menge Input.

Nachdem ich alles überprüft hatte, schrieb ich Tiara eine Sms. Ich würde es nicht schaffen, ihre Mutter nach Hause zu bringen, also musste sie das übernehmen.
Natürlich war sie angepisst, aber ganz ehrlich, es war mir egal. Ich kann nicht jeden Tag zwei Erwachsene babysitten.

Melli schnappte sich ihre Sachen und gemeinsam gingen wir hinunter zum Wagen. Sie sollte ihn heute alleine checken und auffüllen, während ich sie beobachten würde.

Ich setzte mich auf den Patientenstuhl und holte mir was zu schreiben raus. Sie ging alles durch, Schritt für Schritt.

Nach etwa 20 Minuten war sie fertig. Und tatsächlich, sie hatte nichts ausgelassen. Die Trainingseinheiten hatten sich also gelohnt. Stolz, wie eh und je,
marschierte sie an den Jungs vorbei, mit einer "Fuck you"-Geste, während sie lächelte. Unsere Jungs hatten Wetten abgeschlossen, aber jeder von ihnen hatte gegen sie gewettet. Somit verloren sie ihren kompletten Wetteinsatz.

Nach zwei Stunden kam Tiara endlich vorbei, um Ihre Mutter abzuholen. Natürlich konnte sie nicht einmal die Klappe halten. Wild gestikulierend schrie sie direkt vor meiner Wache herum und all meine Kollegen konnten es mit anhören.
Es war schwierig, weil ich in einer leitenden Position war. Es war wirklich peinlich.

„Wie soll ich sie nach Hause bringen? Zu Fuss?", fauchte sie mich an und warf mir ihre Kippe vor die Füße.
„Mh, keine Ahnung, aber ich habe keine Zeit dafür. Ich bin auf der Arbeit verdammt. Kannst du dich bitte etwas zusammen reißen?"

Sie, wütend wie sie war, lief zum Auto und zerrte ihre halbtrunkende Mutter hinaus.
Ich ging zu ihr rüber und versuchte ruhig mit ihr zu reden, aber sie wollte nicht. Stattdessen warf sie mir meine Schlüssel vor die Füße und machte aus einer kleinen Sache ein riesen Theater.
„Und jetzt?", fragte ich nach und hob den Schlüssel auf.
„Willst du mich komplett verarschen? Du musst arbeiten, ja. Arbeiten, arbeiten, arbeiten. Das ist das Einzige, was du im Kopf hast. Du vögelst mich nicht mehr, du bist nie Zuhause und wenn, dann pennst du. Darauf hab ich keinen Bock mehr. Weißt du was, nimm doch einfach deine Sachen und verpiss dich ganz. Das ist doch das, was du willst", brüllte sie weiter und zerrte an ihrer Mutter. Diese war total neben der Spur und hatte keine Ahnung, was hier eigentlich passierte.
„Ja, vermutlich ist es tatsächlich besser, wenn ich meine Sachen hole und mich verpisse. Ganz ehrlich, die ganze Sache ist mir echt zu viel. Ich bin mega erschöpft und total platt. Aber du machst immer weiter. Du scheißt drauf, wie immer. Ich arbeite mich tot für dich, aber zu welchem Preis?"

Ich drehte mich um, um zu gehen, Tiara fluchte noch weiter, bis sie endlich um die Ecke gebogen war.
Melli kam zurück zu mir, schaute auf den Boden und räusperte sich kurz.

„Es ist okay, Shane. Wir kennen dich doch. Kopf hoch und weiter geht's", sagte sie aufmunternd und hielt mir ne Flasche Wasser hin.
Ich nahm sie dankend an und ging rüber zum Rettungswagen.
Auf dem Bildschirm kam gerade eine Tour rein.

Junge Frau, Ende Zwanzig, abdominales Trauma. NA wird erbeten.

Ich stieg ein, Melli und ein anderer Kollege ebenfalls.
Mit Blaulicht fuhr ich vom Hof, Richtung Einsatzort. Auf dem Weg dahin, gingen mir ihre Worte nicht mehr aus dem Kopf. War ich wirklich Schuld an der Situation? Oder war sie einfach nur ein scheiß Egoist?

Letzendlich war es auch egal, denn ich hatte das Gefühl, dass meine Entscheidung bereits gefallen war.

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