Marimba. Der Wecker klingelte in den nervenaufreibenden Klängen einer Marima, und erbrachte wunderbare Leistungen, wenn es ums Spannung aufbauen ging. Als ich es nicht mehr aushielt, sprang ich mit einem Satz, wie ein Raubtier auf seine Beute, auf meinen Wecker zu. Ich schlug auf das Ding ein, bis es endlich ruhe gab, und genoss, die so hart erkämpfte Stille. Ich stand auf, und machte mich für die Schule bereit. Da zum Frühstücken nie Zeit blieb, schnappte ich mir wie immer einen Apfel, und begab mich aus dem trauten Heim, wie man doch so elegant sagt, nicht? Kopfhörer in den Ohren, Kapuze auf dem Haupt, schlenderte ich schon etwas besser gelaunt, am Apfel nagend, die Strasse entlang, mein Ziel, die Schule, ansteuernd. Als ich dort ankam, begab ich mich als erstes zu meinem Spindt, um die richtigen Bücher zu holen.
Drei Lektionen später, während dem Mathematikunterricht, begann ich damit, meine Plan in den Feinheiten zu planen. Ich würde mir ein Make-over verpassen. Da ich meist nicht so spendabel war, hatte ich noch einiges an Geld auf der Seite. Damit könnte ich nun ein Outfit besorgen, das mich zwar innerlich zum Kotzen brachte, mich aber ganz anders wirken liess. H&M wäre eine gute Anlaufstelle dafür. Noch in den Gedanken herum schwelgend, bemerkte ich kaum noch, was um mich herum geschah. « Mitsuki, Geht es Ihnen gut? », Fragte mich Frau Schmidt. « Natürlich, warum sollte es nicht? », erwiderte ich mit dem falschen freundlichen Lächeln, für welches ich einmal berühmt gewesen war, da ich noch regelmässig davon Gebrauch gemacht hatte. « Da bin ich aber beruhigt! Sie haben nicht reagiert, als ich Sie ansprach-», setzte sie zur Erklärung an. « Das tut mir leid! Ich bin wohl etwas müde... », fiel ich ihr ins Wort, mit meiner Mimik Shock und Empörung vortäuschend. Ich durfte nicht wieder in meinen Gedanken versinken, wenn ich ungeplante, überflüssige Konversationen vermeiden wollte. Die Ganze Schauspielerei verlangte mir nämlich eine ganze Menge Kraft, die ich aus nicht vorhandenen Reserven zog, ab. Was mit mir geschah, wenn ich dies zu lange tat, war übel. Zurück blieb dann immer eine leere, von Schmerzen geplagte Schale meiner Selbst. Seitdem ich dies verstand, täuschte ich so wenig Emotion wie möglich vor. Meine Emotion zeigte sich deutlich seltener als jene vieler anderer Menschen, und dies meist unerwartet, in grossen Mengen. Alle Tage war es anders. Von einem Tag auf den andern konnte ich wie ein Pingpong-Ball durch die Gegend hüpfen, und bald darauf mit enormem Gewicht auf den Schultern und schmerzverzerrter Mine durch die Gegend schlurfen. Manchmal schienen meine Emotionen aber auch ganz normal. Als ich angefangen hatte, den natürlichen Lauf dieser Dinge zu akzeptieren, und das ständige falsche Lächeln meine Visage verliess, verschwanden auch die Leute von meiner Seite. Dies war ich für sie also gewesen. Ein Mittel, um die Stimmung in der Runde zu haben. Damit war nun aber Schluss. Allein, war es angenehm ruhig und friedlich. Ich empfand ein mildes Glück, das ich zuvor kaum gekannt hatte. Gelegentlich musste dann aber noch immer die gefälschte Version meiner Selbst anderen eine gute Laune vortäuschen, zum Beispiel jetzt, wenn ich um jeden Preis etwas verhindern musste. So lange es nur selten geschah, war es für mich aber auch nicht weiter schlimm.
Als der Schulalltag endlich vorbei war, begab ich mich wieder in Vollmontur, die aus den bereits genannten Abwehrmechanismen meiner Kopfhörer, der Hoodie-Kapuze und meines ausdruckslosen Gesichts bestand. Das Schulgebäude verlassend, hoffte ich, von niemandem angesprochen zu werden, doch ich schien heute weniger Glück gehabt zu haben. „Hallo du kleiner Punk!", lachte eine Gruppe von jungen Männern, bei der jeder entweder fettige, ungewaschene Haare oder einen kahl-geschorenen Kopf auf den Schultern hatte. Eine Gruppierung aus schleimigen Rechts-Extremen. „Du kannst einen Punk also nicht von einem Emo unterscheiden?", meinte ich halblaut, ihm in dümmlich wirkenden, glasigen Augen schauend. Ich sah die Neugierde in seinem Blick. Er schien sich etwas im Schild zu führen. „Was kommst du mir so frech? Ihr seid alles das Selbe, Punks, Emos, Lesben, Schwule und solche wie du, die behaupten Mann und Frau oder gar keines der Beiden zu sein. Ihr seid Abschaum. Auf dem selben Level wie die Kanaken. Ihr gehört hier nicht her.", Der Grobian wollte seine Kumpanen in Stimmung bringen, nicht? Obwohl ich auch Stolz dafür empfand, hatte mich meine kleine Brosche in den Farben gelb, weiss, violett und schwarz in Gefahr gebracht, und ich beschloss sie später abzunehmen. „Hör auf mit deiner lächerlichen Selbstjustiz. Ich habe nichts mit dir zu schaffen. Ich bitte dich nun, den Sitten entsprechend, darum, mich allein zu lassen, und keine wertenden Worte mir gegenüber auszusprechen. Ich wünsche dir -», weiter kam ich nicht, denn sein Grölen schnitt wieder durch die dicke Luft. « Lass die Scheisse, Kleine. », hörte ich aus seinem Mund, bevor seine Hand vorschnellte. Gekonnt duckte ich mich darunter weg und zog ihm die Beine unter dem Körper weg, bevor ich schnell das Weite suchte. Ich war auf den Schlag nicht vorbereitet gewesen, aber der Reflex war noch immer vorhanden. Das jahrelange unfreiwillige Training hatte scheinbar nicht seine Wirkung verfehlt, auch wenn ich im Austausch für den Reflex lieber das Training nicht erhalten hätte. Zu oft hatte ich der Faust meiner Mutter ausweichen müssen, und diese hatte während ihrer Jugend Boxen intensiv als Sport betrieben. Sie wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit professionell erfolgreich gewesen, wäre sie nicht mit mir schwanger geworden. Unzählige Male hatte sie mich aber erwischt und blaue Augen zurückgelassen. Als ich begonnen hatte, mich zu wehren, war ich danach umso übler zugerichtet. Im Laufe der Zeit war ich darin besser geworden, auch wenn ich einen Preis, die vielen Schmerzen, dafür zahlen musste. Kurz bevor sich meine Mutter selbst umgebracht hatte, hatte ich bereits einen Kampfstil entwickelt, der aus Nachahmungen der Schläge meiner Mutter und persönlicher Erfahrung bestand. Die Reflexe waren teil davon, und sie waren der Hauptgrund dafür, dass ich Schlägereien oder ähnliches gerne vermied. Ich wollte nicht ständig daran erinnert werden, als sei es noch gestern gewesen. Vielleicht hatte es die stupide Frau, die ich zur Mutter hatte, auch mit Absicht gemacht, und genau darauf abgezielt. Es hätte eine perverse Art gewesen sein können, um jemandem das Kämpfen, ohne Möglichkeiten ihm aus dem Weg zu gehen, möglichst brutal und lebensecht beizubringen. Indem man die Echtsituation immer wieder durchspielte, konnte man es im Ernstfall dann auch. Eine lächerliche Art von mütterlicher Liebe wäre das gewesen. Ich spuckte angewidert vor mir auf den Boden aus, in meinem inneren Auge vor ihre imaginären Füsse zielend. Ich beschloss, das Beste aus den Gegebenheiten zu machen. Ich würde ihr nicht dankbar sein, aber im Kampf konnte ich mich nun behaupten, solange keine Waffen im Spiel waren. Als endlich die Wohnung in Sicht kam, beschleunigte ich meine Schritte, um dem Ersehnten etwas schneller näher zu kommen. Ich kannte nach oben in mein Zimmer, holte ein Paar Scheine aus meinen Ersparnissen hervor, und machte mich auf den Weg in den Teil der Stadt, der die meisten Geschäfte, darunter auch H&M, enthielt. Endlich in besagtem Geschäft angekommen, begab ich mich in die „Damenabteilung". Warum musste eigentlich alles in Geschlechter getrennt sein? Es gab auch Männer, die so etwas toll fanden, oder Frauen, welchen es gar nicht zusagte. Als ich mich inmitten der Kleidungsregale befand, begann mir der Kopf zu drehen. Dies war wirklich nichts, das ich zum Spass getragen hätte, auch wenn ich mir gewünscht hätte, ich genösse es, solche Kleidung zu tragen. Ich riss mich zusammen, holte tief Luft, und stellte mir vor, das outfit für jemand anderen auszusuchen. Als ich aus dem Laden, mit einer Papiertüte heraus schritt, befand sich darin ein kurzes enges Oberteil in schwarzer Farbe, weitem Ausschnitt und Rüschen an den Ärmeln, sowie ein kurzer Rock, der in Falten gelegt war und ebenfalls Rüschen am Saum hatte, auch in schwarz. Einen push-up BH hatte ich auch besorgt, in der Hoffnung eine üppigere Oberweite vortäuschen zu können, auch wenn ich mir eigentlich eine kleinere wünschte. Für diesen Look war es notwendig. Als nächstes suchte ich nach „Metro", um weitere Teile des Looks besorgen zu können. Nach ausgiebigem Suchen und überdenken, hatte ich mich für einen Netzstrumpfhose und hohe Plattform-schnür-Stiefel mit Absätzen, sowie farbige Kontaktlinsen, die meine blauen Augen braun aussehen liessen und eine realistische Synthetik-Perücke mit schwarzem Haar entschieden. Als letztes stattete ich dem grossen Supermarkt in der Nähe einen Besuch ab, um passendes Make-up zu besorgen. Eine Lidschatten-Palette in metallenen dunklen Farben, sowie Make up, concealer, Eyeliner und ein billiges, süssliches, nach Zuckerwatte oder ähnlichem riechendes Parfüm landeten in meinem Einkaufskorb. Ich begab mich nach der langen Shopping-Tour auf den Weg nach Hause, und kaufte mir im Laden um die Ecke noch zwei Bier. Endlich auf der Couch angekommen, schaltete ich eine gute Anime-Serie, Death Note, in der richtigen Episode. ein, schlürfte mein Bier, und genoss die Zeit. Die Charaktere in diesem Anime hatten mich von Anfang an begeistert. Es war einfach immer wieder erstaunlich, wie sich die Logik, so verrückt die Geschichte auch war, noch immer herstellen liess. Neunzig Minuten und zwei Bier später, schaltete ich meinen Laptop aus, machte mich bereit, um schlafen zu gehen, auch wenn ich auf meine Schritte achten musste, und warf mich in der friedlichen Müdigkeit auf mein Bett.
Am nächsten morgen wurde ich wach. Ohne nervige Marimba. Ich lag noch fünf Minuten gemütlich in meinem Bett herum, bevor mir klar wurde, dass es Dienstag war. Wie von der Tarantel gestochen schreckte ich auf, und schaute auf meinem Smartphone nach wie spät es war. 07:20 Uhr. Scheisse.
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Hide and seek
Teen FictionEin Doppelleben oder gar ein dreifaches? Muss man die Anzahl der Fassaden in seinem inneren zählen, oder spielt sie gar keine Rolle? Wen lügt man wirklich an, sich selbst oder die Anderen? Lügt man überhaupt, oder wird man durch äussere Einflüsse zu...