Ich lag noch fünf Minuten gemütlich in meinem Bett herum, bevor mir klar wurde, dass es Dienstag war. Wie von der Tarantel gestochen schreckte ich auf, und schaute auf meinem Smartphone nach wie spät es war. 07:20 Uhr. Scheisse. Wenn ich in fünf Minuten losgerannt sein würde, würde ich es noch in die Schule schaffen ohne zu spät zu sein. Ich schnappte mir meine Tasche, sprang aus dem Bett und zog mir die Kleidung, die zuoberst auf dem jeweiligen Stapel lag, an, den Rucksack auf dem Rücken, Apfel in der Hand, legte ich einen halben Sprint hin, bis ich in der Zeit aufgeholt hatte. Keuchend vor dem Schulgebäude stehend, wurde mir bewusst, dass der Unterricht in zwei Minuten begann. Ich schaffte es noch während dem Klingeln an mein Pult, und bemerkte die skeptischen Blicke des Geschichtslehrers, Herr Lang. Er wusste, dass ich nach den Regeln noch pünktlich war, aber er schien den starken Drang zu verspüren, mir eine Verspätung eintragen zu wollen. Das konnte ich gut verstehen, aber ich wollte keinen Eintrag, weshalb ich mich möglichst unauffällig verhielt. Wir besprachen einzige Inhalte zur französischen Revolution, die ich wirklich interessant fand. Mich persönlich interessierte Geschichte sehr, weil ich gerne wissen wollte, was die Menschheit in der Vergangenheit getan hatte, weil ich mir daraus erhoffte, diese Spezies, und damit auch mich selbst, besser zu verstehen. Napoleon, der auf seinem Weg an die Macht, so viel mogeln musste, um das heiss ersehnte Ziel zu erreichen, hielt dieses wohl wirklich für das Grösste. Ich konnte es schlicht und einfach nicht nachvollziehen. Ich war froh, wenn meine Entscheidungen sich auf niemanden ausser mir auswirkten, da ich fürchtete, ich könnte falsche Entscheidungen treffen. Ich wollte möglichst niemanden mit mir zusammen nach unten reissen. Ich hätte dies wohl niemals tun können, doch für viele Andere, beispielsweise Putin, Trump, und so weiter , musste Macht etwas Unglaubliches zu sein. Das Leben Anderer, ohne ihre Zustimmung, nach dem eigenen Willen, ändern zu können, ganz ohne Einschränkungen und Notwendigkeit von Bewilligung. Alles lag in den eigenen Händen, ganz gleich, was andere wollten. Alles dreht sich um das Selbst. Ein egozentrisches Weltbild entstand. Nervenkitzeln. Was würde geschehen? Man könnte Wichtiges verbieten, Krieg beginnen, Menschen in einen Zustand der Verzweiflung oder gar des Aufgeben der Selbstwahrnehmung bringen. Alles kuscht unter einem. Alles verbog sich und leckte einem die Schuhe sauber, kroch einem in den Arsch, nur weil es näher an einen herankommen wollte. "Alles strebt nach mir." Man war das Grösste. Man kam einer Gottheit ähnlich. Vollkommene Zufriedenheit mit sich selbst trat ein. Ein egozentrisches Weltbild entstand.
Meiner Meinung nach, wollten sich diese Menschen ständig beweisen, dass sie gut genug waren. Dies war ihre Krankheit, ihr Mangel. Sie mussten sich immerzu beweisen, dass sie genug waren, und das mit allen Mitteln. Sie trugen die verheerende Unsicherheit mit sich umher, nicht genug zu sein. Es wurde pathologisch, und verursacht Probleme für Andere. Kontrolldrang. Einschränkung. Prävention von Entdeckung des sogenannten Besseren, nur um zu verhindern, dass etwas mehr wertgeschätzt würde.
Krankhaft, dachte ich. Ich war froh darüber, nicht auf dies aus zu sein. Auch wenn ich mir nie wie genug vorgekommen war, musste ich es mir nicht auf Kosten anderer vortäuschen. Ich bevorzugte die Unsicherheit. Schaden bei Anderen zu verursachen, tat mir noch viel mehr weh. Ich wollte niemanden, mit mir, in den dunklen Abgrund ziehen. Niemand verdiente dies, ausser mir. Ich fühlte einen Strick, der mich langsam, Stück für Stück, aus der Tiefe, in der ich nicht mehr atmen musste, nach oben zog. Wer hatte gemerkt, dass ich mit etwas Mühe und Zuwendung wieder atmen wollen würde? Wer hatte gewusst, dass zu leben keine Anstrengung mehr für mich sein würde? War sie es? Obwohl sie dies nur in meinen eigenen Gedanken tat? Ja, sie war es, es war Nao. Wenn auch immer ich an sie dachte, konnte ich mich auf etwas anderes konzentrieren, als das Stück Scheisse, das ich war. Nao war wichtiger. Sie strahlte ein Licht aus, wie es ich selbst nicht tat. Sie strahlte über meine Licht verschluckenden Leere hinaus. Plötzlich liess sich eine Landschaft erkennen, die von sanften Hügeln, die Ruhe nur so ausstrahlten, sowie Flüssen, Teichen mit Enten, Schwänen und Fischen, Wäldern und Wiesen geschmückt waren. Ich dachte mir, dies sei doch gar nicht so übel anzusehen. Ich genoss es, diese Landschaft vor Augen zu haben, anstelle der gähnenden Leere. Dies war es, dies machte ihre Magie aus. Die Gedanken an sie beleuchteten Seiten meiner, die ich noch gar nicht gekannt hatte. Die friedliche Landschaft liess mich Zufriedenheit mit mir Selbst erlangen. War es dies, was den nach Macht strebenden fehlte? Ich hoffte, auch sie könnten diese befriedigende Gefühl eines Tages, ohne die Macht, erreichen, sodass mehr Menschen glücklich waren, und weniger unter üblem Einfluss standen. Auch wenn ich nicht wirklich daran glaubte, dass es falsche Machtverhältnisse in Zukunft verhindern könnte.
Ich hörte die Lektionen durch aufmerksam zu, notierte was mir wichtig erschien, und erschuf Gedankenpfade, die mich auch in Zukunft an die richtigen Orte führen würden. Als das Klingeln für die Mittagspause erklang, und alles um mich herum zu rascheln begann, schob auch ich meine Unterlagen in meine Tasche, und schlich möglichst leise durch die Türe des Klassenzimmers. Die Kopfhörer auf und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Für mich war es heute vorbei in diesem Gebäude. Ich hatte keine Nachmittagsschule. Ich schlurfte also nach Hause, und legte Das Set Kleider bereit, das ich gekauft hatte. Ich wusste, dass man es eigentlich noch vor dem Gebrauch waschen sollte, also die Kleidung, die aus Stoff bestand, und rang mit meinem inneren Schweinehund. Nach fünf Minuten des abwägens entschied ich mich dafür, den richtigen Weg zu gehen. Ich wusch also die Kleidung, und glücklicherweise waren sie ja schwarz, also konnte ich sie im selben Waschgang auf niedriger Temperatur waschen. Ich warf die Kleidungsstücke, die ich neu gekauft hatte, andere Kleider, die auch schwarz und 40er Wäsche war, Waschmittel und Weichspüler in die Trommel der Maschine, schaltete das Express-Program ein, und musste dann noch etwa dreissig Minuten warten, bis ich die Kleidung in den Tumbler warf. Beim Tumbler ging es etwas länger... Bügelfeucht dauerte etwas mehr als eine Stunde. Währenddessen konnte ich mich ja sonst schon einmal bereit machen. Ich stieg in die Dusche, putzte meine Zähne, und trug das mich anekelnde süssliche Parfüm auf. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Ich wusste, dass sehr viele Leute auf dieses Parfüm flogen, es anziehend wirkte. So empfand ich auch, aber nicht an mir. Wenn es jemand anderes tragen würde, ja. Bei mir? Nein. Jetzt aber Schluss mit dem Wehklagen. Es war und blieb nur Parfüm. Dann kam ich dazu, meine Haare zu föhnen und sie so flach und unauffällig wie möglich zu verstecken, sodass sie unter der Perücke nicht mehr zu sehen sein würden. Ich schminkte mich, entschied mich für feminine Smoky eyes und trug eine gigantische Menge Eye-liner auf. Wimperntusche kam auch nicht zu kurz... Ich trug Lippenstift so auf, dass die Farbe nach aussen hin schwächer wurde. Es musste alles so aussehen, wie bei den Instagram-models. Dies dauerte eine ganze Weile. Nachdem ich mich aufgebrezelt hatte, die Perücke makellos befestigt hatte, und einen letzten prüfenden Blick in den Spielgel geworfen hatte, liesse ich das Bügeleisen noch ein paar Minuten vorheizen, bevor ich meine Wäsche aus dem tumbler holte. Bügeln. Eine mir geläufige Praktik des Masochismus'. Niemand musste es tun, man bereitete sich nur zusätzliche Nervenzusammenbrüche, und man wählte es freiwillig. Als meine neue Fassade bereit war, die Schminke sass, das Parfüm jedes Wesen mit Geruchssinn KO schlug, und meine Stiefel bis ganz nach oben eng an mein Bein geschnürt waren, machte ich mich auf den Weg. Ich suchte mir meinen Rucksack heraus, der nicht einmal schlecht zu meiner aufgemotzten Erscheinung passte, verstaute darin Hausschlüssel und Handy, und machte mich auf den Weg. Währenddem ich zur Bushaltestelle ging, übte ich mein Schauspiel noch einmal. Eine Hand lässig an Träger des Rucksacks gelegt, den ich natürlich nur über einer Schulter trug, die andere Hand feminin mit meinen Hüften schwingen lassen. Die Bewegungen schienen für meinen Körper nicht natürlich, doch es fühlte sich an, als würde ich tanzen oder schauspielern. Ich musste mich zwingen jemand anderes zu sein. Wer war die Frau in der auffälligen Kleidung? Was tat sie in ihrer Freizeit? Was für eine Freundschaftsgruppe hatte sie? Auf wen stand sie? Wer war ihrer Aufmerksamkeit würdig, und wie viel Selbstbewusstsein besass sie? Fror sie lieber, als dass sie ihren look zerstören würde?Ein paar Haltestellen weiter stieg Eileen (name des fiktionalen Ichs) aus, und strahlte ihr unerschöpfliches Selbstbewusstsein aus. Sie wusste bereits, dass sie nach der Schule ihren besten Freund treffen würde, und sich die beiden auf den Weg in eine LGBTQAI+ Bar machten. Dort würde sie ihre Auserwählte des Abends mit ihren Blicken verschlingen, sie ansprechen, und mit ihr in einem Hotel verschwinden. Sie schaute niemanden an, ausser die Person hinterliess einen interessanten Eindruck.
Als ich als jemand anderes durch die Strassen bis zur Schule ging, schien es mir, als würde ich mir selbst dabei zusehen, wie ich die Rolle immer besser spielte.
Ich durchschritt das Tor, und spürte die ersten Blicke jener auf mir, die das Tor eben verlassen wollten. Als hätte ich es schon immer getan, warf ich mein neues Haar über meine Schulter und schwang meine Hüften noch etwas ausgeprägter. Das Geräusch der Absätze flankierte mich. Niemand hatte mich je zuvor gesehen, doch das verstärkte den Effekt noch mehr. Wer war die auffällige, attraktive Neue? Warum tauchte sie mitten an einem Nachmittag auf? Wollte sie ihr Teritorium noch vor ihrer Ankunft markieren? Ich schritt durch den Gang, dem Strom der Lernenden entgegen, und fand mich in der Empfangshalle wieder. Ich setzte mich auf einen Stuhl, schlug die Beine über kreuz und wartete. Ich wusste, dass sie bald hier entlang musste, um zu dem Zimmer zu gelangen, das ich im Voraus ausgekundschaftet hatte. Noch nie war mir eine Minute meines Lebens so lange vorgekommen. Jede Sekunde verstrich, als müsse sie sich zuerst durch den zähen Honig der Zeit kämpfen, bevor sie die Uhr an der Wand erreichte. Meine Augen weiteten sich, als sie mein Ziel erblickten. Ich schreckte auf, und folgte ihr so gut ich es ohne meine Absichten offensichtlich zu machen konnte. Ich griff zu meinem Telefon und tat so, als telefoniere ich. Als ich mir sicher war, dass ich richtig geplant hatte, und sie in dem Zimmer verschwand, ging ich zum Ausgang, und stellte mich draussen so hin, dass ich sie durch das Fenster sah.Ich übte mich ein einhalb Stunden in Geduld, bis sie hastend das Schulhaus verliess. Ich folgte ihr von Neuem mit beschleunigten Schritten, doch ich hatte mich verrechnet. Das hasten, war wirklich nicht für meine Absätze gemacht. Kurz bevor sie den Bus, auf den sie gewollt hatte erreichte, und die Türen sich bereits zu schliessen begannen, knickte mein verdammtes Fussgelenk ab, und hinterliess einen brennenden Schmerz in meinem Bein. Ich gab einen Laut des Schmerzes von mir, und sackte in mir zusammen. Sie drehte sich um, und fragte mich ganz verdutzt, den Bus der gerade davonfuhr ignorierend: „Geht es ihnen gut?" Ich war so verdutzt, dass ich ihr erst gar nicht antwortete, und als sich mein Geist wieder eingeschaltet hatte, sass ich auf der Bank der Haltestelle, sie zu meiner Rechten, mit meinem angeschwollenen Knöchel in der einen Hand und meinem Stiefel in der anderen. Ihre nähe legte einen Schleier über meine Sicht und meine Gedanken. Ich hörte ihre Stimme von weit fern, als dränge sie durch eine Schicht kalten Gels, und gab mir Mühe weiterzuatmen. Sie sass nun still neben mir, und als der nächste Bus kam, zerrte sie mich hinter sich her, währenddem sie mich stützte. Eine Viertelstunde später führte sie mich in eine Wohnung. Ich wusste nicht, was nicht mit mir stimmte, aber meine Sicht wurde plötzlich von aussen nach innen schwarz, und ich sank in den tiefen, mit Wasser gefüllten Abgrund, in dem ich nicht mehr atmen musste.
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Hide and seek
Fiksi RemajaEin Doppelleben oder gar ein dreifaches? Muss man die Anzahl der Fassaden in seinem inneren zählen, oder spielt sie gar keine Rolle? Wen lügt man wirklich an, sich selbst oder die Anderen? Lügt man überhaupt, oder wird man durch äussere Einflüsse zu...