13. Schlimmer als organische Chemie

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Livia zupfte etwas an ihrem violetten Haar, während sie sich am Morgen im Spiegel betrachtete. Sie hatte kein Auge mehr zugetan in der Nacht. Dementsprechend zeichneten sich auch dunkle Augenringe auf ihrer hellen Haut ab. Sie spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und atmete tief durch.

Sie wusste nicht, was sie mit ihrer Situation tun sollte. Sollte sie Wilhelmina befreien? Immerhin war sie seit Jahrhunderten da eingesperrt, andererseits vielleicht gab es da etwas, dass sie nicht wusste, dass niemand anderes es vor ihr gemacht hatte. Wilhelmina schien auch nicht nach Hilfe zu fragen. Irgendwas ging nicht auf.

Sie blickte wieder in den Spiegel, während das Wasser ihr Gesicht heruntertropfte. Die braunen Augen, die ihr aus dem Spiegelbild zurückblickten, wirkten fast fremd, sie hatte das Gefühl wieder zurück im Keller zu sein und vor Wilhelmina zu knien. Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf als sie an die Schatten dachte, die über das dichte Wurzelgeflecht tanzten. Sie musste mit Minh sprechen, vielleicht hatte sie eine Idee, was sie tun konnten.

Zögerlich trat sie drückte sie die angelehnte Zimmertür in Minhs Zimmer auf. Diese stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster und telefonierte gerade. Als sie Livia in der Spiegelung bemerkte, gab sie ihr ein kurzes Zeichen, bevor sie ihr Gespräch beendete.

»Alles klar bei dir?«, fragte Livia, als sich ihre Freundin umdrehte und sie die Tränen sah, die in ihren Augen glitzerten.
»Ja, ich...«, sie schluckte schwer, »ich habe zwei wichtige Prüfungen nicht bestanden.«
»Die kannst du sicher wiederholen, oder?«, wollte Livia wissen, in zwei grossen Schritten hatte sie den Raum durchquert und nahm Minh in den Arm.

Minh presste die Lippen aufeinander, um ein Schluchzen zu unterdrücken. »Das waren bereits die Wiederholungsprüfungen. Je nachdem, wie gut ich in den anderen Prüfungen war, muss ich nur diese Kurse wiederholen, ansonsten habe ich ein Problem.«

Livia zog sie näher an sich, während Minh ihr Gesicht in ihrer Schulter vergrub.
»Hatten die Prüfungen etwas mit organischer Chemie zu tun?«, fragte Livia. »Im Gymnasium habe ich vermutlich keine einzige Prüfung über dieses Thema bestanden. Das ist das Schlimmste. Ich weiss jetzt schon, dass sie mich damit in der Hölle foltern.«

Sie strich ihr liebevoll über den Rücken, Minh nahm es immer etwas schwer, wenn sie nicht so abschnitt, wie es gerne gehabt hätte.
»Und dann sind da noch diese verdammten Schutzzauber. Die sind so anstrengend, wieso habe ich bloß zugesagt«, murmelte Minh und erinnerte Livia daran, weswegen sie ihre Freundin aufgesucht hatte. Sie zweifelte gerade, ob sie es ihr wirklich erzählen sollte aber vielleicht war es eine Ablenkung von den Prüfungen.

»Minh?«, fragte sie sanft und Minh löste sich etwas von ihr. »Ich muss dir etwas erzählen«, sagte sie vorsichtig. Wie Minh wohl darauf reagieren wird.

Doch bevor sie weitersprechen konnte, hatte sich Minh aufgerichtet.
»Sag mir nicht, Dana hat dir wieder geschrieben!«
»Was? Nein!«, rief Livia, die absolut nicht begriff, wie Minh auf dieses Thema gekommen war, doch diese wetterte schon weiter.
»Erst gestern hat Finn mir geschrieben, dass Danas Beziehung kürzlich in die Brüche gegangen ist. Wie respektlos kann man sein, mit einer Person zu flirten, von der man genau weiß, dass sie in einer Beziehung ist! Die ist schlimmer als organische Chemie.«

Daher kam das also. »Ich habe von Dana seit fast einem Jahr nichts mehr gehört«, versuchte Livia sie zu beschwichtigen. »Das hat absolut nicht mit ihr zu tun. Es...«

»Minh?« Beide drehten sich zu Calla um, die im Türrahmen stand. Sie sah zwischen den beiden jungen Frauen hin und her »Können wir anfangen?« Sie deutete in Richtung der Treppe, die zur Bibliothek führte.

Minh nickte und wischte sich eilig die letzten Tränen aus den Augen.
»Erzähl es mir nach dem Nachtessen«, sagte sie noch beim Herausgehen, »und sag es mir, wenn Dana dir schreibt!«

Das Herz der HexenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt