1: Lieber Sohn

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Lieber Sohn,

Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. All die Emotionen der letzten Jahre kommen plötzlich wieder hoch. Jeder Moment, den ich mit ihr erlebt habe, blitzt in meinen Erinnerungen vor mir auf. Sie wäre so gerne bei deiner Paarungszeremonie dabei gewesen und es schmerzt mich immer noch, dass sie uns verlassen musste. Die letzten Stunden habe ich damit zugebracht ihr Tagebuch zu lesen und kann es auch jetzt nach all den Jahren immer noch nicht ganz fassen, dass ich sie wirklich gefunden hatte. Ich weiß, dass auch du dich nach deiner Gefährtin sehnst und wie gering deine Chancen sind sie jemals zu finden, aber gib bitte nicht auf, denn die Mondgöttin wird euch eines Tages zusammenführen. Jetzt wo ich ihre Seite der Geschichte kenne, weiß ich, dass es eigentlich absolut unmöglich gewesen wäre, dass ich meine Gefährtin getroffen hatte und wie viel mehr hinter dieser Begegnung tatsächlich gesteckt hatte. Viele ihrer Geheimnisse hatte sie scheinbar mit ins Grab genommen, einige habe ich im Laufe der letzten Jahrzehnte erst herausgefunden, doch wie viel mehr sie tatsächlich gehabt hatte, konnte ich erst durch ihr Tagebuch wirklich erahnen. Deshalb möchte ich dir hier beide Seiten unserer ersten Begegnung und Schwierigkeiten darlegen. Denn selbst wenn du deine Gefährtin findest, wird nicht alles leicht sein. Wenn du ein Glück, wie wir es hatten, erleben möchtest, wirst du eines Tages dafür kämpfen müssen. Ich glaube an dich.

Hallo, wenn das jemand findet.... nun es soll niemand finden, aber wenn es jemand findet, dann soll es mit mir begraben werden, denn dann bin ich wahrscheinlich tot. Keine Ahnung wie lange das dauern wird, aber ich befürchte es wird schon sehr bald sein. Ich vermisse dich, Mum. Ich weiß, du sagtest, ich solle kämpfen....Aber wofür denn, wenn du nicht mehr da bist? Ich weiß, ich soll niemandem trauen, aber irgendwem muss ich mich anvertrauen, und wenn es nur ein blödes Buch ist. Bitte sei mir nicht böse. Ich fühle mich so einsam, seit du weg bist. Schreib später, sonst wird das Buch nass.

Wie du siehst ging es deiner Mutter nicht besonders gut, bevor sie mich kannte, da ihr Tagebuch wirklich so anfing. Ich habe dir die interessanten Stellen an passenden Stellen kopiert. Und natürlich beschreibe ich dir hier auch meine Erinnerungen, damit du ein komplettes Gesamtbild erhältst. Ich hatte eigentlich eine mehr oder weniger glückliche Kindheit, doch die Last der späteren Verantwortung konnte ich schon sehr früh erahnen. Statt mit anderen Kindern zu spielen musste ich viel trainieren, damit ich würdig würde,unser Rotrundrudel zu führen. Meine Eltern waren die ersten, die sich dieser Aufgabe gestellt hatten. Beides waren sie Einzelkinder des jeweiligen Alphapärchens des territorial nebeneinandergelegenen Rotmondrudel und Halbrundrudels. Beide Rudel waren damals schon ziemlich groß gewesen, aber ich glaube seit der Zusammenschließung beider, sind wir eines der größten Rudel der Welt oder zumindest dieses Kontinentes. Es ist also keine leichte Aufgabe, die da auf dich zukommt, wie ich aus lebenslanger Erfahrung weiß, aber mit der richtig Gefährtin an deiner Seite wirst auch du sie meistern, so wie ich es und dein Großvater vor mir getan haben. Obwohl meine Großeltern es beinahe zum Blutvergießen hatten kommen lassen, hatte die Mondgöttin alles zum Besten geführt. Wobei ich von meinen Eltern weiß, dass auch sie es anfangs nicht unbedingt leicht hatten, ihren Eltern klar zu machen, dass es schlauer ist, sich zu verbünden statt zu bekriegen. Meine Mutter erzählte mir einmal als Kind,dass ihr Vater wohl ziemlich wütend auf sie war, als dieser herausfand, dass sie die Gefährtin des verfeindeten Alphasohns sei. Solltest du jemals an deiner Gefährtin zweifeln, so kann ich dir versichern, dass du darauf vertrauen kannst, dass sich alles zum Besten ergeben wird.



Mum, oh Mum. Ich will dich festhalten, zumindest die Erinnerung an dich. Deine langen braunen Haare waren immer vom Wind zerzaust. Wir waren immer unterwegs und du hattest mir nie gesagt wohin oder warum, sowie du auch nie von meinem Vater geredet hattest. Du warst immer so geheimnisvoll wie deine grünen Augen.

Dank dir kenne ich jeden Baum und jede Pflanze, weiß wie man Feuer macht und im Wald überlebt. Deine Abenteuertasche habe ich immer noch. Wenn ich fragte, warum wir von Wald zu Wald ziehen, sagtest du immer wie seien auf Abenteuer und deshalb hieß deine Tasche auch so. Ich bin froh, dass du sie damals in die Brennnesseln geworfen hast, auch wenn ich erst später verstand warum. Topf, Decke, Messer, Seil, Feuerstein und Zunder. Eben alles, was man fürs Überleben braucht. Die Lederstücke, die du angenäht hattest, um sie in jeder Form tragen zu können sind so abgenutzt, aber ich möchte die Erinnerung an dich nicht überarbeiten. Deine Nadel habe ich leider nicht mehr, also könnte ich es eh nicht flicken. Das Eichhörnchenfell war dein letzter Flicken, gerade als du damit fertig warst, begannen deine letzten Augenblicke. Mittlerweile sind davon nur noch ein paar Fetzen übrig und ich erkenne immer mehr Lederstücke darunter, die du angebracht hattest. Manchmal frage ich mich, wann wohl der ursprüngliche Riemen der Tasche zum Vorschein kommen wird. Es waren Menschen und sie haben mich aufgenommen. „Verwandel dich. Tu so als wärst du ein Mensch. Ich liebe dich“, das waren deine letzten Worte. Verdammt, auch jetzt noch, muss ich bei diesen Erinnerungen weinen. 3 Jahre bin ich bei ihnen geblieben, 3 Jahre lang konnte ich mir nur sehr selten und heimlich verwandeln. Es war eine schwierige Zeit, ein überhasteter Aufbruch und jetzt bin ich wieder allein, aber ich habe lesen und schreiben gelernt und wie man Tinte herstellt. In der Schule der Menschen haben sie eines Tages aus Vogelbeeren Tinte hergestellt und ich habe heimlich meinen Mörser und Stößel eingesteckt und in die Tasche im Wald gesteckt. All die Jahre hatte ich deine Tasche in einem hohlen Baum umgeben von Brennnesseln versteckt, ganz nahe der Stelle, an die du sie geworfen hattest. Als ich etwa 7 Jahre alt war haben sie an dem Tag, an dem sie mich gefunden hatten, meinen ''Geburtstag'' gefeiert, da sie nicht genau wussten, wann ich tatsächlich geboren worden war. Manchmal frage ich mich heimlich, ob du mich tatsächlich geboren hast. Aber das konnte ich den Menschen natürlich nicht sagen. Damals war ich schon 2 Jahre bei den Menschen gewesen und fast ein Jahr davon in die Schule der Menschen gegangen. Ich konnte schon ein wenig lesen und schreiben und deshalb haben sie mir ein Buch geschenkt, ja genau dieses, in das ich gerade schreibe, dazu eine Schreibfeder und ein verschließbares Tintenfässchen. Sie sagten, dass ich vielleicht Tagebuch schreiben wolle, aber als sie mir erklärte, was das sei, fand ich es doof und nickte stumm. Als ich beim spielen im Wald war, habe ich es dann heimlich in deiner Tasche versteckt. Ich glaube, ich dachte damals, dass du es eher wert warst, Geschenke zu bekommen, als ich. Ich mochte es, mit den anderen Kindern im Wald zu spielen, beim verstecken wurde ich nie gefunden, weil ich immer verwandelt neben deiner Tasche saß, mich in deinen schwächer werdenden Geruch kuschelte und dich vermisste. Ich schloss meine Augen und in Gedanken war ich bei dir. Das waren die einzigen wenigen Momente, in denen ich unbeobachtet und wirklich frei war. Doch wenn es Abend wurde, musste ich zurück, bevor die anderen böse auf mich waren. Du warst mein Geheimnis, mein geheimer Ort. Doch dein Geheimnis vertrieb mich von dort und verhalf mir zur Flucht.



Wo wir gerade bei Eltern sind, auch meine Eltern hatten es wie erwähnt nicht leicht. Meine Mutter war die einzige Tochter der Anführer des Halbrundrudels, das so hieß, wegen den abgerundeten Klippenfelsen ihres Territoriums der direkt über unserem Strand liegt, der damals zum Rodmondrudels meines Vaters gehörte. Warum dieser Strand zum Rodmondrudel gehörte, verstehe ich bis heute nicht, aber genau das war auch der Grund für die Auseinandersetzungen der beiden Rudel. Um zum Strand zu kommen, musste man nämlich das Gebiet des Halbrundrudels durchqueren. Das eine Rudel wollte keine fremden ständig durch ihr Gebiet wandern sehen, das andere wollte keine fremden an ihrem Strand. Etliche Verhandlungen waren gescheitert, die Forderungen der Parteien immer größer. Gegen Ende der Verhandlungen und Anfang der Handgreiflichkeiten forderte das eine Rudel des Strand für sich und das andere einen Durchweg zum Strand für sich, also eigentlich wollte jedes Rudel jeweils etwas vom Gebiet des anderen für sich haben ohne etwas dafür zu geben. Ein Krieg schien unausweichlich. Schon seit Wochen trainierten die Soldaten beider Seiten noch intensiver als sonst eh schon. Und dann kam der Tag, an dem sich alle Soldaten beider Seiten an der Grenze versammelten. Den ganzen Vormittag, so wurde es mir erzählt, hätten sich wohl die Wölfe von beiden Seiten aus gegenseitig angeknurrt, um einander Angst einzujagen und die jeweils andere Seite zum Aufgeben zu zwingen. Die beiden Alphas standen ganz vorne an der Grenze einander gegenüber nur einen Sprung voneinander entfernt und hinter sich jeweils ihre Soldaten. Als es gegen Mittag ging und kein Alpha den anderen dominieren konnte, änderte plötzlich der eine seine Taktik, indem er seinen Sohn vortreten ließ, um mit ihm anzugeben. Mein Vater war gerade dabei gewesen vorzutreten und der Gegnerische Alpha war schon im Begriff zum Sprung anzusetzen, als mein Vater mitten in der Bewegung erstarrte, die Nase emporstreckte und ein lautes Heulen ausstieß. Alle Wölfe folgten seinem Blick, der auf meiner Mutter klebte, die gerade mit dem Mittagessen für ihr Rudel aus dem Wald getreten und noch im Schritt erstarrt war. Meine Eltern sahen sich an und die restliche Welt existierte für sie nicht mehr, ganz langsam und verwundert begannen sie aufeinander zuzugehen. Leider reagierte mein Großvater schneller und befahl seinen Soldaten sofort seine Tochter wegzuschaffen und niemanden an sie ranzulassen, während er sich meinem Vater in den Weg stellte, der mit Gegenwehr gar nicht gerechnet hatte und durch Großvaters Stoß einige Meter nach hinten geschleudert wurde, während meine Mutter aufschrie,als sie gepackt und weggezerrt wurde. Mein Vater war am Durchdrehen und hatte sich gar nicht mehr unter Kontrolle. Zum Glück reagierte wenigstens mein anderer Opa noch mit Verstand, denn er befahlt seinen Leuten ihm zu helfen seinen Sohn zu bändigen, verschob den Krieg und zog mit seinen Leuten ab. Natürlich dachte Mutters Vater damals, er habe gewonnen, er musste erst lernen umzudenken, bis hier endlich Frieden herrschen konnte.


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