Kapitel 4

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Am nächsten Morgen wurde Isabell von lautem Vogelgezwitscher geweckt. Es konnte kaum nach sechs Uhr morgens sein, doch die Sonne war schon aufgegangen und tauchte den Wald in ein goldenes Licht. Das erste, dass Isabell auffiel, war die fortwährende Abwesenheit Melvin's. Er war jetzt schon seit fast 24 Stunden verschwunden und langsam befürchtet seine Schwester sogar, dass er, wahrscheinlich unfreiwillig, zurück zu ihren Großeltern gegangen war. Oder schlimmeres...

Schließlich beschloss sie, ihm noch einen weiteren Tag zu geben. Wenn er dann nicht auftauchte, würde Isabell erst das Haus ihrer Großeltern ausspionieren und dann nach Todesanzeigen in der Zeitung suchen. Leider musste diese Möglichkeit auch erwogen werden. Isabell hatte schon zu oft in den Nachrichten gehört, dass Menschenmengen in Panik gerieten und einige Menschen dabei stürzten und von den anderen tot getrampelt wurden. Allerdings konnte Melvin auch bei der Explosion des Autos ums Leben gekommen sein... Nein! Daran durfte Isabell jetzt nicht denken. Es galt ein Lager aufzubauen, in dem man zur Not auch den Winter überleben konnte.

Nach einem Frühstück, das aus zwei Brotscheiben mit Käse bestand, rappelte Isabell sich auf und wanderte los, um nach weiteren essbaren Beeren und einem guten Stock für den Köcher zu suchen. Gegen 17 Uhr kam sie auf die Idee noch einmal zum Dornengestrüpp zu gehen. Diesmal wollte sie aber ein langes Messer mit glatter Schneide mitnehmen. Dagegen würde das Gestrüpp wohl kaum eine Chance haben. Bevor sie aufbrach, schnallte sich Isabell noch den neuen Köcher, mit den Glasscherbenpfeilen auf den Rücken und schnappte sich ihren Bogen, der eigentlich ganz gut geworden war. So bewaffnet machte das Mädchen sich auf den Weg durch den immer dunkler werdenden Wald.

 Als Isabell beim Dornengestrüpp ankam, sie hatte sich zweimal verlaufen, war es schon seit geraumer Zeit dunkel und der noch fast volle Mond strahlte am Himmel. Isabell zog ihr Messer und begann langsam, Zweig für Zweig abzuschneiden und sich tiefer in das Buschwerk hineinzuarbeiten. Das Gestrüpp war fast doppelt so groß wie sie selbst und als sie sich bereits mehrere Meter vorwärts gekämpft hatte, wurden sämtliche Geräusche des Waldes von den verschlungenen Zweigen, den stacheligen Dornen und den Wurzeln, die kreuz und quer aus der Erde ragten, geschluckt. Besorgt hielt das Mädchen inne und lauschte. Erst hörte sie gar nichts, doch dann bemerkte sie eine Art Schnaufen. Langsam und tief. Das Tier war also noch da und scheinbar schlief es momentan.

Warum Isabell umbedingt zu ihm wollte, wusste sie selbst nicht. Vielleicht war es gar nicht so gefährlich. Oder es war verletzt und brauchte ihre Hilfe. Isabell hatte schon früher häufig irgendwelche Kleintiere mit nach Hause geschleppt, weil sie verletzt waren. Ihre Großeltern hatten das nie sonderlich gut gefunden, hatten aber nichts gegen die Tiere unternommen, solange sie sich nicht bemerkbar machten. Dieses Tier schien, laut seiner Atmung, relativ groß zu sein und würde sich vermutlich nicht so leicht behandeln lassen, wie eine angefahrene Amsel. Es waren nur noch einige Hiebe mit dem Messer nötig, dann stand Isabell plötzlich auf einer sehr kleinen Lichtung. Die Ranken des Gestrüpps waren in der Mitte zu Boden gedrückt und teilweise zerrissen. Plötzlich bemerkte Isabell etwas großes. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihm wieder, sodass es sanft glänzte.

Genauer betracht war es ein großes vierbeiniges Tier mit einem langen Schwanz, der über den Hinterbeinen lag. Es lag auf der Seite, mit dem Bauch zu Isabell und schien tatsächlich zu schlafen. Der Kopf ruhte auf den Vorderpfoten, die man wohl eher Klauen nennen sollte, denn sie endeten in je drei, fingerlange und messerscharfe Krallen. Als Isabell den Kopf näher betrachtete, fielen ihr sofort die beiden gedrehten Hörner auf, die schräg oben hinten an dem Schädel saßen. Die geschuppte Schnauze flachte nach vorne hin ab und die geschlossenen Augen waren von kleinen markanten Schuppen umrahmt.

Doch das wohl auffälligste Merkmal des Tieres waren die, im Moment zusammengefalteten, von Ranken umwickelten Flügel. Die ledrige Flügelmembran hatte eine blass silberne Farbe und war fast durchsichtig. Insgesamt war der komplett geschuppte Körper etwas großer als ein großes Pferd und so schlank, dass man deutlich die Rippen erkennen konnte. Isabell war sich jetzt sicher. Vor ihr, im Licht des fast vollen Mondes, lag ein Drache.


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