Kapitel 6

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Wann immer ich Liam in den nächsten Tagen begegnete, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Unsere Begegnung am Strand war nicht wirklich etwas besonderes gewesen, wir hatten ja nicht einmal viel geredet, doch irgendwas hatte es verändert. Ich wusste nur noch nicht so genau, was es war.
Auf irgendeine komische Art und Weise hatte ich das Gefühl ihn nun besser zu kennen. Dabei wusste ich noch nicht mal sein Alter, oder wo er vorher gelebt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was er in seiner Freizeit so machte oder was er für Musik hörte.
Letzteres sollte ich dringend herausfinden. Ich mochte prinzipiell keine Menschen, die Rap hörten. Aber Liam sah ganz und gar nicht wie jemand aus, der laut mit grölend Rapmusik hörte.
Er sah eher wie ein ruhiger Charts-Hörer aus. Oder vielleicht hörte er auch gar nicht so gerne Musik?

Für den Donnerstagnachmittag hatten Charlie, Alicia, Bea, Cleo und ich uns zum ins Kino gehen verabredet. Als wir jedoch vor dem Eingang standen und mal wieder auf Alicia warteten, tauchte sie mit einigen Minuten Verspätung und Liam und Madison im Gepäck auf. Charlie und ich warfen uns einen verwirrten Blick zu und ich sah, wie auch Cleo eine Augenbraue hochzog. Kurz überlegte ich etwas zu sagen, doch Bea kam mir zuvor.
„Ihr kommt auch mit? Wusste ich gar nicht. Wie cool!“
Meine Worte wären etwas anders ausgefallen, doch nachdem Liam grinste, es sah ein wenig erleichtert aus, so als sei er sich vorher unsicher gewesen war, ob er hier erwünscht war, und sich auch Madison so etwas, wie ein Lächeln, aufs Gesicht stahl, hielt ich einfach den Mund.
Wir wollten ja eh nur einen Film gucken, da sprach man ja nicht sonderlich miteinander und ich würde wahrscheinlich gar nicht richtig merke, dass die Beiden überhaupt da waren.
Der Film war ganz in Ordnung und wann immer es mir zu langweilig wurde, begann ich einfach Charlie das Popcorn zu stibitzen.
Als wir jedoch wieder im Foyer standen und unsere Augen angestrengt versuchten sich wieder an das helle Licht zu gewöhnen, war es ausgerechnet Madison, die vorschlug, wir können ja noch etwas zusammen essen gehen.
Einen Moment lang überlegte ich einfach nach Hause zu fahren, doch Mom würde erst spät zurück kommen und ich wollte mir den Abend mit meinen Freunden nicht einfach so nehmen lassen.
Bea schlug vor in irgendein schickes Restaurant zu gehen, aber ich war nicht die Einzige, die augenblicklich begann den Vorschlag abzulehnen. Es schien so, als seinen auch Cleo und Liam ein wenig knapp bei Kasse.
Es war Charlie, die schließlich vorschlug, hinunter zum Strand zu gehen und eine Portion Pommes beim Imbiss zu bestellen.
Die Idee gefiel mir weitaus besser. Beim Imbiss in den Dünen gab es die weltbesten Pommes. Okay, ich war nie weiter als 300km von Hampton entfernt gewesen, geschweige denn hatte ich den Kontinent verlassen, aber die besten Pommes der Stadt waren es auf jeden Fall!
Also machten wir uns auf den Weg hinunter zu den Dünen, es war ein kurzer Weg. Diejenigen von uns, die ein Fahrrad dabei hatten, schoben es. Charlie, Alicia und Madison wohnten alle nur ein paar Straßen vom Kino entfernt und waren deshalb zu Fuß gekommen.
Der Imbiss war in einem sehr alt und klapprig aussehenden Bauwagen untergebracht, auf dessen Dach große Buchstaben angebracht waren, die die Worte >Lion´s Imbiss< bildeten. Vor dem Wagen waren überall kleine Tische und Stühle verteilt. Der Bereich wurde durch einen niedrigen Holzlattenzaun abgegrenzt, der mit Lichterketten geschmückt war. Auf den Tischen standen kleine Töpfchen mit Kakteen drin.
Als wir durchs Tor, dass so niedrig war, dass man sich leicht bücken musste um es zu öffnen, traten, kamen Ben und Joe, die Inhaber gleich auf uns zu geeilt.
Ich schätze, im Laufe der Zeit waren wir so etwas, wie Stammgäste geworden.
„Na ihr Hübschen, wie ich sehe, habt ihr zwei neue Gesichter dabei.“, begrüßte Ben uns fröhlich. „Hmm…“, machte Joe, „Ich würde sagen, die Beiden sind neu hier. Ich habe sie jedenfalls noch nie gesehen!“
Es mochte sich merkwürdig anhören, doch es gab tatsächlich kaum jemanden in Hampton, der noch nie bei ihnen am Bauwagen gegessen hatte.
Als wir das erste mal hergekommen waren, war es wirklich nur ein Imbiss gewesen, doch mittlerweile verkauften die Beiden auch Kuchen, Kekse und alles mögliche was ihnen noch so in den Sinn kam.
Nachdem Alicia Madison und Liam vorgestellt hatte, gaben wir unsere Bestellung auf und schoben dann ein paar Tische zusammen, damit wir alle Platz hatten.
Als ich schließlich weit über eine Stunde später nach Hause radelte, hatte ich ausgesprochen gute Laune. Leider hielt diese nicht sonderlich lange an, denn als ich nach Hause kam, war Mom schon da. Wir hatten in den letzten Tagen nicht wirklich viel miteinander geredet, nicht dass das bei ihren langen Arbeitszeiten möglich gewesen wäre, aber ich vermisste sie ein wenig.
Es verletzte mich noch immer, dass sie nicht ehrlich zu mir gewesen war.
Als ich jetzt jedoch das Wohnzimmer betrat, traten mir Tränen in die Augen. Mom lag auf dem Sofa, ihr Gesicht war blass und ihre Augen fast  geschlossen. Als sie mich sah, verzog sich ihr Gesicht leicht. Ich war mir nicht sicher, ob sie überrascht war mich zu sehen, oder ob es der Versuch eines Lächelns war.
„Mia.“, hauchte sie, doch es war kaum zu verstehen, so schwach war ihre Stimme.
„Geh ins Bett, Mom, bitte!“, flehte ich, „Ruf auf Arbeit an und melde dich für ein paar Tage krank!“
Sie machte Anstalten sich aufzusetzen, anscheinend wollte sie wirklich ins Bett gehen, doch sie schüttelte den Kopf.
„Es geht nicht.“, sagte sie mit rauer Stimme, und als sie an mir vorbei schlurfte, „Du verstehst das nicht Mia, bald ist es vorbei!“
Die Tränen liefen mir nun die Wangen hinab, doch ich sagte nichts. Ich wartete, bis Mom in ihrem Zimmer verschwunden war, dann griff ich wieder nach meiner Tasche, die ich erst vor wenigen Minuten im Flur hatte fallen lassen, und verließ das Haus.
Es war das zweite Mal in dieser Woche, dass ich mir mein Fahrrad schnappte und obwohl es bereits spät war, zum Strand radelte.
Wahrscheinlich hätte es auch gereicht einen Spaziergang durch den Wald zu machen, aber es wurde langsam dunkel und ich wollte nicht ganz alleine sein. Schon gar nicht in einem finsteren Wald in dem überall unheilvolle Geräusche zu hören waren.
Ich schloss mein Fahrrad an den gleichen Baum, wie am Montag, zog meine Schuhe aus und lief über den Stand hinunter zum Meer.
Der Sand war heute noch etwas wärmer, als er es beim letzten Mal gewesen war und so setzte ich mich eine Weile hin. Geradezu weit genug weg vom Wasser, sodass es mich nicht mehr erreichen konnte.
Ich starrte hinaus auf die scheinbar unendlichen Weiten des Meeres und versuchte die fiesen Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Ein leises Stimmchen in meinem Hinterkopf flüsterte gehässig, dass es meine Schuld sei, wie schlecht es Mom ginge. Aber ich hatte oft genug gefragt, wie es ihr ging, oder? Ich hatte ihr gesagt, dass sie es mit der Arbeit übertrieb, doch sie hatte darauf beharrt, dass sie an einer wichtigen Forschung dran seien.
Mich ärgerte es, dass sie mir nicht einmal erzählte, worum es dieses Mal ging. Früher hatte sie mir oft erzählt, was sie und ihre Kollegen gerade erforschten, doch seit ein paar Wochen war alles, was sie noch erzählte, wie wichtig es war.
Nach dem ich eine Weile so dort gesessen hatte, ich wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, wollte aber auch nicht nachschauen, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Mia?“
ich sah auf. Es war Liam.
„Du schon wieder.“, murmelte ich und wischte mir eilig die Tränen vom Gesicht.
„Hey, alles okay bei dir?“, er setzte sich neben mir in den Sand und sah mich besorgt an.
„Ja, schon okay.“, versicherte ich.
„Ich weiß, wir kennen uns nicht wirklich gut, aber wenn du jemanden zum reden brauchst, ich bin da!“, sagte er strich mir sanft über den Arm.
Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus, doch glücklicherweise schien er es nicht zu bemerken.
„Danke.“, murmelte ich und wischte mir noch einmal über die Wange.
Einige Minuten blickten wir gemeinsam aufs Meer und sahen dabei zu, wie erst die Sonne unter ging und der Himmel dann von unendlich vielen glitzernden Sternen übersät war.
„Ich meinte das, was ich gesagt habe wirklich so.“, sagte er nach einer Weile.
Ich kaute auf meiner Unterlippe. In den letzten Tagen hatten Madison und er oft Zeit mit uns verbracht, aber konnte ich ihm deshalb gleich die Ohren voll heulen? Ich mochte ihn.
„Es ist nur wegen meiner Mom… sie“, flüsterte ich schließlich zögerlich.
Bis ich seine Hand sanft über meinen Rücken streichen fühlte, war ich mir nicht sicher gewesen, ob er mich überhaupt gehört hatte. Als ich einen Augenblick lang schwieg, fragte er leise: „Was ist mit ihr?“
„Ich weiß es nicht.“, flüsterte ich, „Sie arbeitet immer so viel und ich sehe, wie schlecht es ihr geht, aber sie will nicht… sie will nicht auf mich hören, wenn ich ihr sage, dass sie sich frei nehmen soll.“
Wieder liefen mir Tränen über die Wangen und ich versuchte rasch sie weg zu wischen. Es war mir ein wenig peinlich vor ihm so einen Gefühlsausbruch zu bekommen.
„Psst, Mia.“, sagte er, „Es ist okay, lass es raus.“
Es griff nach seinem Rucksack und zog eine Packung Taschentücher hervor. Er nahm eins heraus und reichte es mir.
„Danke.“, schniefte ich.
Eine kleine Schar Schmetterlinge flatterte in meinen Bauch.
„Es wird ihr bald wieder besser gehen!“, sagte Liam sanft.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch tobten vor Aufregung. Ich war mir zwar nicht so sicher, ob es Mom wirklich so schnell wieder gut gehen würde, schließlich sah sie schrecklich aus, doch es war schön seine Worte der Aufmunterung zu hören.
Ich spürte, dass meine Zuneigung für ihn von Minute zu Minute und von Wort zu Wort weiter anwuchs.
Ich war noch nie ernsthaft verliebt gewesen, doch langsam begann ich mich zu fragen, ob es nicht nun vielleicht soweit sei. Ich kannte Liam noch immer kaum, ich hatte zwar mittlerweile heraus gefunden, dass auch er sechzehn Jahre alt war und dass sowohl er, als auch Madison zuvor in Yorkton gelebt hatten, aber viel mehr wusste ich nicht über ihn.
Dennoch war da jedes Mal, wenn er in der Nähe war, dieser Schwarm an Schmetterlingen.  Zum mindestens glaubte ich, dass es Schmetterlinge waren. Es fühlte sich jedenfalls genau so an, wie es in Büchern immer beschrieben wurde.
Eine eisige Brise wehte vom Meer heran und ich fröstelte leicht. Wie spät es wohl war? Wie als hätte Liam den gleichen Gedanken gehabt, zog er sein Handy hervor. „Es ist schon kurz vor elf.“, stellte er fest, „Ich muss langsam zurück. In welche Richtung musst du?“
„Hauston Street.“, sagte ich, dann fiel mir ein, dass er wahrscheinlich noch nicht so viele Straßennamen kannte, „Liegt ganz auf der anderen Seite von Hampton, Mom und ich wohnen am Fuße der Berge.“
Meine Stimme war noch immer leise und brüchig, aber wenigstens waren die blöden Tränen verschwunden.
„Wir wohnen auch kurz vor den Bergen.“, sagte er mit einem Lächeln, „Welmourt Road.“
„Das ist nur zwei Straßen von uns entfernt, meine Großeltern wohnen auch dort.“, stellte ich fest und versuchte mich an einem kleinen Lächeln. Es war ein wenig wackelig, doch ich konnte ein Blitzen in Liams Augen erkennen. Vielleicht war es auch nur die Reflexion der Sterne.
„Dann können wir ja zusammen fahren.“, schlug er mit einem Grinsen vor, „Du bist doch auch mit dem Rad hier, oder?“
Ich nickte und er sprang auf die Füße. Er streckte mir die Hand entgegen um mir aufzuhelfen. Als ich sie nahm, jagte ein leichter Schauer meinen Arm entlang.
Wir gingen über den Stand hinauf zu meinem Fahrrad und er sah mir dabei zu, wie ich meine Schuhe wieder anzog, dann liefen wir zu seinem Fahrrad, dass er wenige hundert Meter weiter am nächsten Strandaufgang geparkt hatte.
Ein Stück weit schoben wir die Räder neben uns her. Keiner von uns sagte ein Wort. Es war keine unangenehme Stille, außer uns war kaum noch jemand unterwegs und die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren das leise Quietschen seines Fahrrades, der Wind, der durch das Laub der Bäume fuhr und das Zirpen der Grillen.
Nach einer Weile stiegen wir schließlich doch auf die Räder. Als wir vor Moms und meinem Haus ankamen, blieb auch er kurz stehen. Nach einem kurzen Augenblick, in dem wir uns nur ansahen, sagte er: „Gute Nacht, Mia.“ und fuhr dann davon.
„Gute Nacht, Liam.“, flüsterte ich, doch er war bereits zu weit weg, um es zu hören.

The Secrets Hidden In Your ShadowsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt