2. Luke

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Eine Hand berührte sie an der Schulter. Sie grummelte. Die Farben ihres Traumes umgaben sie wie einen festen Schleier.

«Odette, wach auf. Du bist zu Hause.» Das war eine leise männliche Stimme. Sie schrak hoch und sah in das Gesicht eines fremden Typen. Sogleich fielen ihr wieder die Geschehnisse von eben ein.

«Wir sind da?», fragte sie heiser und tatsächlich, als sie durch die Windschutzscheibe spähte, erkannte sie den Block, in dem sie wohnte. Er hatte den Mini Cooper sogar genau an dem Platz geparkt, an dem sie meistens stand. Die Parkplätze waren nicht fest zugeteilt. Sie schluckte leer. «Woher weisst du wo ich wohne?», fragte sie tonlos und starrte ihn ängstlich an.

«Stand in deinen Fahrzeugpapieren.» Er zog die Handbremse. Ihr Blick schweifte zum Handschuhfach. Hatte er tatsächlich, während sie schlief, nach den Fahrzeugpapieren gesehen? «Bist du von der FBI oder so?», fragte sie und sie merkte, dass sie die Frage sogar halb ernst meinte.

«Nein, ich wollte dich nur nicht wecken.»

Sie stiegen aus. Die Nachtluft war jetzt trotz September regelrecht kalt. Sie fröstelte. Er reichte ihr den Fahrzeugschlüssel und lächelte sie an. «Danke fürs Mitnehmen.»

«Genau genommen hast ja du mich mitgenommen.»

«Irgendwie schon ja.» Er lachte.

«Was tust du jetzt? Wo schläfst du?» Sie fragte es halb aus Neugier, halb aus Mitleid.

«Ach, ich habe da schon meine Kontakte, keine Angst.»

Sie überlegte kurz und entschied dann aus dem Bauch heraus. «Du kannst auch diese Nacht bei mir übernachten, wenn du willst.» Sie war schon fast selbst von sich überrascht. So kannte sie sich ja gar nicht.

«Bist du sicher, dass das okay für dich ist?», fragte er dann. Das Zögern verunsicherte sie. Jetzt strich sie sich wieder über die Falte auf der Bluse. Er lächelte, als er die Bewegung bemerkt.

«Ich würde das Angebot sehr gerne annehmen.»

Schnell ging sie im Kopf den Zustand ihrer Wohnung durch. Hatte sie Wäsche rumliegen? Oder hatte sie das Geschirr vom überstürzten Abendessen vergessen abzuwaschen, bevor sie zur Schicht aufgebrochen war? Und wenn ja, sie konnte es ja eh nicht mehr ändern. Sie macht Anstalten die Eingangstür aufzuschliessen, dann zögerte sie. «Warte.»

«Was ist?», fragte er. Er sah sich alarmiert um und sie folgte seinem Blick. Wonach er wohl suchte?

«Ich weiss ja gar nicht, wie du heisst.» Sie sah verwundert zu ihm hoch.

Kurz schaute er verblüfft, dann lachte er. «Ich bin Lukas, aber alle nennen mich Luke.»

«Ich wette meinen Namen hast du bereits in den Fahrzeugpapieren gelesen.» Ihre Stimme klang trotzig. Er lächelte beschämt. «Odette.» Sie nickte.

Sie fuhren mit dem Lift in den vierten Stock. Sie lebte in einer gemütlichen eineinhalb Zimmer Wohnung, am Rande der Stadt. Sie führte ihn in ihre kleine, bescheidene Wohnung. Im Wohnzimmer war ein roter Teppich ausgelegt. Ansonsten war die Einrichtung in Weiss gehalten. Die hölzernen Balken an der Dachschrägen als warmer Kontrast verliehen der Wohnung etwas sehr Gemütliches, obwohl sie eher praktisch eingerichtet war. Ein Sofa, ein Tisch und ihre Staffelei standen in einem Teil des Raumes, der von einer Kochinsel von der offenen Küche abgetrennt war. «Hübsch», sagte er beim Eintreten. Sie suchte in seinem Gesicht nach Sarkasmus, fand aber keinen. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer, wo sich ein Bett, ein Schrank und ein Spiegel befanden. Zwischen den Möbeln standen vielerlei Pflanzen.

«Du kannst das Bett übernehmen, ich geh auf die Couch.» Sie kramte eine Wolldecke aus dem Schrank.

«Das ist deine Wohnung, also wirst auch du in deinem Bett schlafen!», protestierte er sogleich mit strenger Stimme. Sie sah ihn beleidigt an. «Jetzt hör schon auf! Ich habe das Recht in meiner eigenen Wohnung so gastfreundlich zu sein, wie ich es will. Du schläfst im Bett und basta!» Mit diesen entschiedenen Worten warf sie die Wolldecke auf die Couch und setzte sich darauf.

Er sah sie amüsiert an. «Du bist süss, wenn du dich aufregst.»

Bei diesen Worten wurde sie rot. Schnell flüchtete sie sich ins Bad. Erst einmal eingeschlossen ärgerte sie sich, dass sie wie eine vierzehnjährige reagierte. Sie stellte sich rasch unter die Dusche und wusch den Schweiss der anstrengenden Schicht ab, danach putzte sie sich die Zähne. Sie legte ihm ein Handtuch und eine frische Zahnbürste bereit. Als sie das Bad verliess, gab sie ihm ein altes T-Shirt und ein paar Shorts, die ihrem Bruder gehörten und wies ihn geschäftsmässig darauf hin, dass er es ihr sagen sollte, falls ihm was fehlte. Als nun er im Bad verschwand, zog sie das Seidenpyjama an, das ihre Mutter ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte es bisher kaum getragen, aber sie wollte nicht in verwaschenem T-Shirt und schmuddeligen Pyjamahosen vor ihren Gast treten. Dann machte sie auf einem grossen Teller viele kleine Schnitten mit Avocado, Tomaten und Basilikum bereit und stellte ihn auf die Kochinsel. Sie schob ihre Unterlagen etwas zur Seite. Als Luke das Bad verliess, fielen ihm die dunklen Haare in wirren, losen Locken in die Stirn.

Die Kleider ihres Bruders passten ihm perfekt. Sie schluckte leer.

«Hast du Hunger? Ich habe noch etwas Kleines vorbereitet.» Sie wies mit einer raschen Handbewegung auf die Bar. Er lächelte. «Wow, das ist super. Danke.» Er nahm sich eine Schnitte vom Teller.

«Braucht man sowas, um in einer Bar zu arbeiten?» Er nickte in Richtung Unterlagen.

«Ach so, das mach ich bloss nebenbei. Ich studiere eigentlich Deutsch und Soziologie.»

Er nahm eines der Blätter zur Hand und studierte es. «Das sieht ja ganz schön nach Da Vinci Code aus.» Jetzt war es Odette, die lachte. «Das ist Mittelhochdeutsch und nicht halb so spannend wie der Code von Da Vinci, glaub mir.»

Er legte das Blatt wieder weg. «Du sagtest, du studierst eigentlich Soziologie und Deutsch.»

Sie wurde wieder rot. «Du bist aufmerksam.» Sie räusperte sich kurz, bevor sie weitersprach. «Naja, dieses Semester habe ich ausgesetzt.»

Luke runzelte die Stirn und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. «Wieso denn?»

Sie konnte und wollte nicht darüber reden. «Persönliche Gründe.»

«Ich verstehe.»

Odette wandte sich ab und fing an, das Geschirr abzuwaschen. Sie verlor bei dem Thema immer viel zu schnell die Kontrolle über ihre Gefühle. Sie presste die Lippen zusammen. Manchmal gelang es ihr, alles für ein paar Stunden zu vergessen, aber jedes Mal, wenn es ihr wieder einfiel, machte ihr der Stich, den es ihr versetzte, umso mehr zu schaffen. Sie fuhr zusammen, als ein Schatten über sie fiel. Er griff vorsichtig nach ihrem Ellbogen.

«Geht es dir gut?» fragte er leise. «Entschuldige, falls ich eben etwas Falsches gefragt habe.»

«Schon gut, es ist ja nichts.» Sie entwand sich ihm, trocknete das Geschirr ab und räumte es weg. Als sie sich umdrehte, stand er wieder an die Arbeitsfläche gelehnt da und beobachtete sie. Ihr fiel eine lange weisse Narbe auf, die sich an seinem Oberarm entlang zog und unter dem Ärmel verschwand. Bevor sie danach fragen konnte, sagte er: «Du siehst sehr müde aus und solltest dich hinlegen.» Wie auf Kommando spürte Odette wieder ihre schwachen Beine. «Du hast recht.» Sie gähnte. «Brauchst du noch etwas?», fragte sie beinahe aus gewohnter Manier. Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Wie oft sie diesen Satz heute wohl gesagt hatte.

«Du hast schon genug getan, leg dich jetzt hin.» Er trat zu ihr und schob sie sanft aus der Küche.

Sie folgte seiner Aufforderung ohne Widerstand, legte sich mit einem zufriedenen Seufzen auf das Sofa und rollte sich zu einem Knäuel zusammen. Das war ihre gewohnte Schlafposition. Embryo-Stellung.

«Gute Nacht», murmelte sie und zog sich die Wolldecke bis zum Kinn hoch. Ob das geantwortete «Träum was Schönes» bereits Teil ihres Traumes war, wusste sie nicht, denn wenige Sekunden später verfiel sie in den Tiefschlaf.


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