3. Marco

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Sie träumte von Schweinwerfern in der Dunkelheit. Luke, der davon beleuchtet inmitten der Fahrbahn vor ihr stand, ein Glas Tallisker in der Hand. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, es wurde von einem Nebel verhüllt. Als sie genauer hinsah, konnte sie sehen, dass es ihr Bruder war. Sie sah, dass er eine lange Narbe auf dem Arm hatte, die plötzlich zu einem, dann zwei und immer mehr Schläuchen wurde, die aus ihm herausragten. Er lächelte traurig, liess das Glas fallen und als es zerschellte, wachte Odette auf. Nur mit Mühe konnte sie sich zwingen, die Augen aufzureissen, weil sie nicht weiterträumen wollte. Eine bleierne Müdigkeit lag auf ihr. Sie lag ihn ihrem Bett und rieb sich die Augen. Durch die nicht vollständig zugezogenen Vorhänge drängte sich das Tageslicht in den Raum. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Es war 10:56 Uhr. Wie lange hatte sie geschlafen? Nur langsam sickerte die letzte Nacht wieder ins Bewusstsein und als ihr Luke wieder einfiel, fuhr sie schlagartig hoch. Warte, wieso lag sie in ihrem Bett? War sie nicht auf dem Sofa eingeschlafen? Odette sah sich um. Er war nicht hier. Sie lag alleine in ihrem Bett und alles sah so aus wie immer. Hatte sie das alles vielleicht nur geträumt? Sie stöhnte, als die starken Kopfschmerzen sie wieder in die Kissen zwangen. Diese Migräne war ja kaum auszuhalten. Vielleicht war es ja auch die Grippe. Nach einer Weile zwang sie sich dazu, aufzustehen. Sie ging zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und öffnete das Fenster. Ihre Augen tränten von der plötzlichen Helligkeit. Es war ein sehr schöner und heller Tag. Wieder ein Tag, den Marco nicht aktiv miterleben durfte.

Erst als sie sich Milch in eine Müslischale eingoss, fiel ihr der Zettel auf, der auf der Bar lag. Es waren nur drei Zeilen:

Ich hoffe du hast gut geschlafen. Ich wollte dich nicht wecken.
Danke für alles,

Luke

Sie las die Zeilen mehrmals. Es war also tatsächlich kein Traum gewesen. Sie stockte. Aber wie war sie dann vom Sofa ins Bett gekommen? Er musste sie wohl irgendwann hinübergetragen haben und sie hatte nichts davon bemerkt. Sie schüttelte den Kopf. Er war einfach gegangen. Sie wollte sich die Enttäuschung nicht eingestehen und ass schnell ihr Müsli auf.

Auf dem Weg ins Krankenhaus, versuchte sie nicht mehr an Luke zu denken. Odette ging auf dem Weg noch beim Blumenhändler vorbei und kaufte eine Sonnenblume. Die hatte ihr Bruder, Marco als Kind immer so gemocht. Die Sonnenblumenkerne waren ihm die liebsten.

Als sie die Empfangshalle durchschritt, grüsste sie flüchtig die Dame am Schalter. Man kannte sie bereits, sie brauchte sich nicht mehr anzumelden. Sie fuhr mit dem Lift direkt in den vierten Stock in die Neurologie und stand in wenigen Minuten vor dem Krankenzimmer ihres Bruders. Leise trat sie ein. «Hallo Marco, ich bin's, Odette!», begrüsste sie ihren Bruder, der wie immer regungslos in den weissen Laken lag. Sie stellte die frische Sonnenblume in die Vase, die auf dem Nachttisch stand und entfernte die alte, die bereits ihre Blätter hängen liess. «Sieh mal, ich habe dir wieder eine Sonnenblume mitgebracht.» Vorsichtig setzte sie sich auf den Stuhl, der ans Bett gerückt dastand. Ihre Mutter musste vorher dagewesen sein. Odette streichelte vorsichtig über den Arm ihres Bruders. Er sah blass aus, die Augen geschlossen. Auf einem Bildschirm, der über dem Krankenbett hing, konnte man seinen regelmässigen Herzschlag mitverfolgen. Seit siebzehn Tagen lag er jetzt schon im Koma. «Ich wollte eigentlich früher kommen, aber ich hatte eine strenge Schicht gestern und habe heute ein bisschen verschlafen, entschuldige.» Man hatte ihnen gesagt, dass er sie hören konnte. Am Anfang war es ihr komisch vorgekommen Monologe zu halten, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. «Es ist wieder so ein schöner Tag heute. Ein Tag, an dem man an den See fahren könnte um den Sommer geniessen. Wir hätten die Flossen mitnehmen können und wären ein bisschen getaucht. Wenn du wieder aufwachst, machen wir das.» Sie nickte vor sich hin. Die kurzen blonden Haare ihres Bruders schienen dunkler geworden zu sein, oder vielleicht wirkte er auch nur blasser. Ihre Mutter musste ihn vor kurzem rasiert haben. Seine Wangen wirkten ohne die Bartstoppeln noch farbloser. «War Mam vorhin schon hier? Ich muss sie verpasst haben.» Sie schaute zum Bildschirm hoch und beobachtete die regelmässige Herzkurve, die ihr die einzige Antwort war. Plötzlich fühlte sie sich allein. Sie legte die Stirn an das kühle Metall des Krankenbettgitters und schloss die Augen. In ihrem Kopf pochte es wieder. Das war ja kaum auszuhalten. Sie überlegte sich gerade, ob sie die Schwester um ein Dafalgan bitten sollte, als sich die Tür öffnete und ihre Mutter eintrat. Sie hielt einen hellblauen Kaffeebecher in der Hand.

«Odette, mein Liebes!», begrüsste sie ihre Tochter erfreut. Sie hatte dasselbe dichte braune Haar, wie ihre Tochter, nur waren bei ihr schon graue Strähnen zu erkennen. Gerade in den letzten Wochen schien sie gealtert zu sein, ausserdem hatte sie abgenommen. Odette war aufgestanden. «Hallo Mam!», sagte sie und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Sie bot ihr den Stuhl an und diese setzte sich.

«Ich wusste gar nicht, dass du heute kommst.»

«Du weisst doch, dass ich fast jeden Tag vorbeischaue.»

«Stimmt.» Sie seufzte leise. «Du sollst aber nicht die Uni vernachlässigen.» Odette wusste, dass ihre Mutter das nur aus elterlichem Pflichtbewusstsein sagte. Aber wenn sie wüsste, dass Odette das Semester aussetzte, würde ihr das nicht gefallen.

«Natürlich», sagte Odette und die beiden schwiegen eine Weile vor sich hin.

Marco war vor fast drei Wochen beim Biken gestürzt und hatte sich Kopfverletzungen und innere Blutungen zugezogen. Nach der OP, die ein künstliches Koma nötig gemacht hatte, war er nicht wieder zu sich gekommen. Die Ärzte hatten gemeint, dass Marco die Operation gut überstanden hätte und bald wieder aufwachen würde. Jetzt waren es aber schon fast drei Wochen und noch immer geschah nichts. Die Angst lähmte die ganze Familie. «Ich habe Marco gerade gesagt, dass wir bald wieder einmal zusammen an den See fahren müssen.»

Ihre Mutter lächelte leicht. «Ja, das haben wir früher oft zusammen gemacht.» Als Odette nichts mehr darauf erwiderte, fügte sie hinzu: «Thomas kommt nachher noch vorbei. Wenn du willst, können wir dann zusammen zu Mittag essen.» Thomas war seit einem Jahr ihr neuer Freund.

«Ich bin nachher leider bereits zum Essen verabredet, entschuldige, aber ein andermal!», sagte Odette und log damit noch nicht einmal. Sie war tatsächlich zum Mittagessen verabredet, und zwar mit ihrer Freundin. Aber um Thomas zu umgehen, war sie sich für ein die eine oder andere Notlüge nicht zu schade.

«Mit Lisa?», fragte ihre Mutter

«Ja.»

«Das ist schön, richte ihr einen lieben Gruss von mir aus.» Ihre Mutter senkte den Blick wieder und betrachtete Marco. Sie strich ihm über sein kurzes, blondes Haar, dass er von seinem Vater geerbt hatte. «Ja, du hast schon recht. Die Sonne würde ihm guttun.»


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