1. Eine unerwartete Begegnung

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Es war zwei Uhr früh. Odette fuhr an der Strasse am See entlang. Trotz der Erschöpfung fühlte sie sich eigenartig aufgekratzt. Das war oft so nach der Arbeit. Ihr Kopf wälzte wahllos Bestellungen und Gesprächsfetzen des Abends umher. Ihr fiel ein Typ Mitte dreissig ein, den sie zum ersten Mal im Kolibri gesehen hatte. Er hatte alleine an einem Tisch in der Ecke gesessen. Odette hatte aus dem Augenwinkel bemerkt, dass er sie beobachtete. Der Herr war eigenartig förmlich gekleidet gewesen und trank Tallisker auf Eis. Solche Gäste gab es in der Bar eher selten. Sie seufzte. Es war eine strenge Schicht gewesen. Der Schmerz in ihren Schläfen verschleierte ihr die Sicht. Seit zwei Tagen plagten sie starke Kopfschmerzen. Ohne die Paracetamol hätte sie gar nicht erst arbeiten können. Ein paar Sekunden lang dachte sie an nichts. Die Bäume sausten schleierhaft an ihr vorbei, als sie durch die Nacht fuhr. Um die Zeit war niemand sonst auf der Strasse unterwegs. Sie hörte nur das Brummen des Motors.

Da tauchte er plötzlich wie aus dem Nichts auf. Die Gestalt traf sie wie ein Schock. Odette trat mit voller Wucht auf die Bremse und sie spürte, wie sie nach vorne geworfen wurde, als der Wagen quietschend zum Stehen kam und der Motor erstarb. Odette atmete schwer aus. Jetzt war es vollständig still, bis auf ihren schnellen Atem. Sie hielt noch immer das Lenkrad umkrallt. Gerade noch rechtzeitig hatte sie bremsen können. Da lag eine Gestalt mitten auf der Strasse. Oh Gott, war der etwa tot?!

Was sollte sie jetzt bloss tun? Sie sah sich um, aber ausser dem Mensch auf der Strasse, war da niemand. Sie zwang sich dazu, sich etwas zu beruhigen. Vielleicht war die Person ja auch nur verletzt. Zögernd öffnete sie die Tür und trat in die kühle Nachtluft hinaus. Sie hörte das Zirpen von Grillen und der leise Klang von fliessendem Wasser. In der Nähe musste ein Bach sein.

«Hallo? Sind Sie verletzt?», rief sie aus sicherem Abstand. Als die Gestalt nicht reagierte schluckte sie leer und trat näher heran.

«Wieso hast du mich denn nicht überfahren?», erklang eine grollende männliche Stimme. Sie fuhr erschrocken zurück. «Was?» Jetzt erkannte sie, dass es sich um einen jungen Typen handelte. Flach auf dem Rücken liegend drehte er den Kopf in ihre Richtung. Sie näherte sich ihm. Er konnte nicht viel älter als sie selbst sein. «Du bist also nicht tot?», fragte sie mit leicht hysterischer Stimme und biss sich sogleich auf die Lippe.

«Nein, aber ich hätte es sein können, hättest du nicht so schnelle Reflexe» Er setzte sich auf. Er hatte markante Gesichtszüge und kniff nun verärgert den Mund zusammen. Aber als sein Blick den ihren traf, erstarrte er. Etwas unergründliches blitzte darin auf, aber sie bemerkte es gar nicht, so aufgebracht war sie. «Bist du verrückt? Du kannst dich doch nicht einfach auf die Strasse legen! Wenn du dich umbringen willst, dann tu das so, dass niemand hineingezogen wird!» Sie merkte selber, dass sie denkbar mitfühlender reagieren sollte, aber sie war noch zu erschrocken. Er schien sich wieder gefangen zu haben und sah sie belustigt an. «Wie denn?»

«Ich weiss doch nicht! Du hättest dich doch einfach von einer Brücke stürzen können, oder so.» Sie stampfte wütend auf. «Um ein Haar hätte ich dich umgebracht!»

Er schien kurz nachzudenken. «Du hast recht, mein Plan war nicht wirklich fair.»

Sie beäugte ihn kritisch. Er trug eine teuer aussehende Lederjacke, darunter ein weisses Hemd. Er wirkte nicht wie einer, der mit dem Leben abgeschlossen hätte. Dafür war er viel zu gefasst, ja er wirkte beinahe amüsiert. «Na immerhin siehst du das ein», murmelte sie und fügte nach ein paar Sekunden noch hinzu: «Du wolltest dich doch gar nicht umbringen, oder? Eigentlich wolltest du nur das man dich findet.»

Der Typ setzte sich in den Schneidersitzt. Er sass noch immer Mitten auf der Strasse. «Interessanter Gedanke.» Er fuhr sich durch die Haare, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Jetzt musterte er sie gründlich. Die Situation war so absurd. Der Adrenalinstoss eben hatte ihr ihre letzten Kräfte geraubt. Sie sackte neben dem Fremden auf den Asphalt und rieb sich die Schläfen. «Wieso hast du dich auf die Strasse gelegt?», fragte sie jetzt müde.

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