VII

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Timo ließ das Fenster runter und wir bestellten.
Nach zwei Minuten bekamen wir unser Essen und Kaia machte mit zitternden Fingern die Papiertüte auf.
Sie holte eine Schachtel Pommes aus der Tüte, nahm eine Pommes heraus, drehte diese zwischen ihren Fingern und biss ein winziges Stück ab.
Dann schien irgendwie ihre Hemmschwelle gebrochen worden zu sein und sie steckte sich drei Pommes auf einmal in den Mund.
Auf der Fahrt zu Timos Wohnung aß sie irgendwie alles, was in der Tüte war.
Zwei Cheeseburger, zwei mittlere Pommes und eine Apfeltasche.
Wir wollten eigentlich Eis, aber naja.
Eismaschine kaputt.
Aber ich konnte ihr wirklich nicht verübeln, dass sie alles gegessen hatte.
Sie brauchte das.
Wirklich.
Ich hingegen kam gerade vom scheiß Meth runter.
Es hatte länger geknallt als sonst, aber ich hatte ja auch zwei Jahre Pause seit dem letzten Mal.
Ehrlich gesagt, am liebsten würde ich aus dem Auto steigen und auf der Autobahn spazieren gehen.
Aber ich durfte und konnte dieser Versuchung nicht nachgeben.
Wir sind gleich da, sagte ich mir immer und immer wieder in meinem Kopf.
Bis wir irgendwann wirklich vor seiner Wohnung standen.
Wir stiegen aus und ein scheiß Hubschrauber leuchtete mir direkt in die Fresse.
Und dann checkte ich, was passiert war.
Ich zog Timo aus seinem Auto wie bei GTA und schaute ihm panisch ins Gesicht.
Er brauchte eine Sekunde, bevor er seinen Schlüssel aus seiner Jackentasche holte und hektisch die Tür aufsperrte.
Ich zog die verwirrte Kaia ins Haus und wir gingen die Treppen nach oben vor seine Wohnungstür, die er auch schnell aufsperrte und uns reinließ.
"Muss Auto zusperren", murmelte er und ging zurück.
Ich schloss die Tür hinter uns und atmete tief durch.
Kaia warf mir einen fragenden Blick zu.
"Die haben mich gesehen. Scheinwerfer vom Bullenhubschrauber war zwei Sekunden lang auf mir.
Scheiße, scheiße, scheiße."
Wortlos ging sie an mir vorbei ins Badezimmer.
Erst hustete sie, dann würgte sie, dann kotzte sie.
Ich konnte alles hören.
Aber was ich nicht mehr konnte, war weitermachen.
Ich war gefickt.
Zurück in die Klapse, auf die Geschlossene.
Dann zurück in die scheiß JHE, dort meinen Abschluss nochmal versuchen und nochmal verkacken, dann den Rest meines Lebens von Hartz IV leben und alleine sterben.
Das war nicht mein Plan.
Aber mein Schicksal.
Aber ich konnte auch auf all das verzichten.
Ich hämmerte an die Tür und Kaia kam raus.
Ich schloss die Tür ab und zog meinen rechten Schuh aus.
Ich zog den Schnürsenkel aus dem Schuh und atmete tief durch.
Dann blickte ich in den Spiegel.
Ich erkannte diesen Wichser nicht.
Was war aus ihm geworden.
Ich legte den Schnürsenkel um meinen Hals und zog daran.
So fest ich konnte.
Ich konnte wirklich nicht mehr atmen.
Erst sah ich schwarze Punkte, dann wurde mir schwindelig und dann lag ich auf dem Boden.

*

Langsam kam ich wieder zu Bewusstsein.
Keine Ahnung, wie lange ich weg gewesen war.
Fünf Minuten? Drei Stunden?
"Altan, was ist los?", weinte Kaia von der anderen Seite der Tür.
"Mir geht's gut", krächzte ich.
Meine Wange war kalt vom Fliesenboden.
"Altan?"
Ihre Stimme zitterte.
Irgendwas sagte mir, sie hatte mies Scheiße gebaut.
"Ich hab' nen Krankenwagen gerufen."
Sofort stand ich auf beiden Füßen und riss die Tür auf.
"WAS HAST DU?"
"Was hast du gemacht?", fragte sie mit Tränen in den Augen und schaute auf meinen Hals.
Ich ging zurück und schaute noch mal in den Spiegel.
"FUCK!", schrie ich und nahm die Rasierklinge, die immer noch im Waschbecken lag, in meine Hand.
Dann schnitt ich einmal über meine Kehle.
Die Klinge schien nur leider ziemlich stumpf zu sein, denn ich merkte gar nix.
Also, an meinem Hals.
In meinem Kopf war das reinste Chaos.
Kaia brach zusammen und ich stieg über sie drüber ins Wohnzimmer.
"Wusstest du, was sie macht?", fragte ich Timo.
Ich hörte selbst, wie angespannt ich war.
"Ich hab's befürwortet. Sie hat Recht, Bro. Du bist kaputt da oben, du funktionierst nicht mehr."
Fassungslos blieb ich wie angewurzelt stehen.
Dann ging ich langsam den Weg zurück.
In der Ferne hörte ich einen Krankenwagen.
Ich blieb vor Kaia stehen und hockte mich vor sie.
Sie lag zusammengerollt und weinend auf dem Boden vor der Badezimmertür.
Dann beugte ich mich zu ihr.
"Ich vertraue nie wieder irgendwem. Nicht dir, nicht meinem scheiß Psychologen, nicht den Leuten in der Jugendhilfe und um Himmels Willen nicht Timo.
Euch ist doch scheißegal, was ich mache.
Also lasst mich das alles beenden und..."
Es hämmerte an der Tür.
"Rettungsdienst, machen Sie bitte die Tür auf."
Ich ging zügig zur Tür und schubste Timo nach hinten.
Dann riss ich die Tür regelrecht auf.
"Ich bin der durchgeknallte Psycho, von dem Ihnen erzählt wurde.
Ich bin das ausgebrochene Klapsenkind.
Los! Nehmen Sie mich mit.
Aber da ist noch jemand, den Sie vielleicht mitnehmen sollten.
Sie ist nämlich auch aus der Psychiatrie abgehauen. Genau so wie ich.
Sie hat seit Tagen nichts richtiges mehr gegessen ohne es auszukotzen und heult gerade auf dem Boden.
Und den Junkie da, kümmern Sie sich nicht um ihn. Er ist mir scheißegal!"
Zum Ende hin wurde ich immer lauter.
Sollten ja auch alle hören.
"Wo ist denn das Mädchen, das weint?", fragte mich die Frau ruhig.
Ich deutete grob in die Richtung und sie rannte zu ihr hin.
Ich schluckte.
Was zur Hölle hatte gerade meinen Mund verlassen.
Ich setzte mich auf den Boden und schielte zu Kaia.
Ihr ging es wirklich, wirklich dreckig.
"Kommen Sie bitte mit?", fragte mich der Sanitäter.
Mit wackeligen Knien stand ich auf.
Was hatte ich getan.

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt