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*

Ich starrte seit fünf Minuten nur auf meine Arme.
Es waren noch mehr Narben dazu gekommen.
Aber die waren alle verheilt.
Es klopfte an der Tür.
"Altan?"
Ganz schnell zog ich die Ärmel meines Pullis wieder nach unten.
"Was?"
Ich verdrehte die Augen.
"Dein Betreuer ist da."
Ich seufzte.
"Wurde aber auch Zeit."
Ich nahm meine Tasche voller Klamotten und irgendwelchem Zeug, das ich hier bekommen hatte.
Mein Türschild zum Beispiel.
Jeder hatte seinen Namen drauf geschrieben, der in dieser endlos langen Zeit mit mir in diesem Dreckloch gesessen hatte.
Ein paar Leute hatten auch ihre Nummer drauf geschrieben.
Die würde ich dann schön über's Festnetz anrufen.
Natürlich nicht.
Hier waren sowieso nur die ganz komischen untergebracht.
Also ging ich vor die Tür, wo mein Betreuer stand.
"Bist du soweit?"
Ich schüttelte wortlos meine Tasche.
Er schmunzelte.
"Gut. Dann ab in die Freiheit."
Freiheit.
Konnte man das überhaupt so nennen?
Es war 'ne Eins zu Eins Betreuung.
Da würde ich dann ein, zwei Monate sein und dann bekam ich eine Wohnung auf Kosten des Staates.
Irgendwie lustig, weil am Ende meine Eltern den ganzen Spaß mit finanzierten - als brave Steuerzahler.
Der PED sperrte die Tür auf und ich ging ganz ganz schnell raus.
Endlich.
War ich.
Hier.
Raus.
Ich atmete tief durch und ging voran.
Und dann war ich aus dem Krankenhaus raus.
Es fühlte sich fast schon komisch an, nicht zu rennen.
Ich schaute zu meinem Betreuer.
"Wo is' dein Auto?"
"Im Parkhaus."
Er deutete nach rechts.
Schweigend gingen wir zu seinem Auto und stiegen ein.
"Altan?"
"Hm?"
Ich sah ihn an.
"Ich hab' da was für dich."
Er kramte in seinem Rucksack und gab mir etwas, das ich seit drei Jahren nicht gesehen hatte.
Ich nahm mein Handy in meine Hand und schaltete es an.
"Ich hab's sogar aufgeladen."
"Danke", murmelte ich und schaute fasziniert das kleine Telefon an.
Und kaum war mein Handy an, regnete es Nachrichten.
Mein Betreuer fuhr los und ich öffnete WhatsApp.
Mir hatten echt viele Leute geschrieben.
Aber eine Person übertraf alles.
Vor fünfundzwanzig Minuten war die letzte Nachricht eingetroffen.
Eintausend achthundert Nachrichten.
Ich schluckte und ging auf den Chat.
Ich hatte sie sogar mit einem Herz eingespeichert.
Sie hatte mich damals echt zugespamt.
Und dann hatte sie mir jeden scheiß Tag geschrieben.
Eine Nachricht am Tag.
Über drei Jahre lang.
Der Text war immer der gleiche.

Schlaf gut. Ich vermisse dich.

Ich ging aus dem Chat und noch mal rein.
Sie hatte mir vor fünfundzwanzig Minuten ja noch mal was geschrieben.

Ich weiß nicht, ob oder wann du das lesen wirst.
Aber.
Ich verstehe, dass du mich hasst.
Ich versuche es zumindest.
Altan, ich will, dass du mir noch eine Chance gibst.
Eine.
Ich werde dich nicht mehr so enttäuschen.
Weil ich jetzt weiß, was ich zu verlieren habe.
Ich hoffe, dir geht es einigermaßen okay.
Wirklich, ich will immer noch nicht, dass du stirbst.
Es tut mir unfassbar leid.
Ich hab' dich lieb.

Mein Gott, Kaia war echt wortgewandt.
Ich schluckte.
"Wir sind da."
Ich nickte und stieg aus, nahm meine Tasche aus dem Kofferraum und stellte mich vor die Tür.
Er sperrte die Haustür auf und ich ging rein.
Dann sah ich mich erst Mal um.
War ganz nett eingerichtet.
Typisch deutsch halt.
Mit Kuckucksuhr und so.
"Kann ich kurz telefonieren?"
"Klar. Dein Zimmer ist oben."
Ich nickte und ging mit meiner Tasche nach oben in mein Zimmer.
Ich hatte direkt beim ersten Versuch das richtige Zimmer erwischt.
Es war hier drin nicht viel.
Ein Schreibtisch, ein Bett, ein Schrank und das wars auch schon.
Ich ließ mich auf das Bett fallen - bequemer als erwartet - und entsperrte mein Handy.
Dann ging ich mit zitternden Fingern auf Kontakte und wählte Kaia aus.
Ich atmete tief durch und rief sie an.
Sie ging nach ein Mal Klingeln ran.
Ich sagte gar nichts.
Sie sollte hier den ersten Schritt machen.
"Er ist gestorben, oder?"
Ich unterdrückte ein Lachen.
"Was laberst du, ich wurde entlassen."
"Oh mein Gott."
Ich schmunzelte, aber wurde wieder ernst.
"Du hast nichts falsch gemacht."
"Doch, man. Du hast mir vertraut und ich habe dich verpetzt."
"Ja. Aber", ich holte tief Luft, "ich hätte mich ohne dich umgebracht. Mit meinem verdammten Schnürsenkel. Du hast mein Leben gerettet."
Sie sagte gar nichts.
"Wo wohnst du jetzt?"
"Eins zu eins Betreuung. Keine Ahnung, welche Straße."
"Kriegst du Hilfe?"
"Nö. Ich bin achtzehn, jetzt, so. Die KJP scheißt auf mich. Ich bin jetzt erwachsen", gab ich ironisch von mir.
"Oh. Ja. Ich noch nicht."
Ich schmunzelte.
"Süß."
Wir schwiegen uns locker fünf Minuten an.
"Willst du dich treffen?", fragte ich leise.
"Klar. Wo?"
"Nordpark?"
"Okay. Ich kann in einer halben Stunde da sein."
"Gut. Ich muss noch fragen, aber denke schon, dass ich darf."

*

Nervös zog ich an meiner Kippe.
Die durfte ich jetzt einfach legal rauchen, heilige Scheiße.
Ich war echt alt geworden.
Ich starrte auf den Boden und drückte den Kugelball in meiner Hand.
Es war keine gute Idee gewesen, sie zu treffen.
Sie würde mich jetzt wahrscheinlich nur stressen und aggressiv machen.
Ich hörte Schritte im Kies und sah hoch.
Sie sah wirklich gut aus.
Sie hatte zum Glück zugenommen, aber sie war immer noch sehr, sehr dünn.
Ihre blonden Haare fielen über ihre Schultern und auf ihren Augen war ein Lidstrich.
Sie lächelte mich nervös an.
Ich stand auf und fiel ihr in die Arme.
"Ich hab' dich vermisst", murmelte ich.
"Ich dich auch", flüsterte sie.
Ich unterdrückte ein Lächeln.
Es fühlte sich gut an, das von ihr zu hören.
"Also. Wie kommst du jetzt drauf... mich zu treffen?"
"Weiß nicht, hab' viel in der Therapie über dich geredet."
Ich sah sie an.
"Mir geht's bisschen besser. Aber die Drogenscheiße bin ich nicht los."
Sie schluckte.
"Nimmst du was?"
"Zur Zeit Xannys. Aber daran sind die selber schuld, wenn die mir den Kack schon verschreiben, nehm' ich halt fünf am Tag."
Sie schluckte.
"Der Entzug davon soll schlimm sein."
Ich zuckte mit den Schultern und schaute auf meine Hände.
"Ich such mir 'nen Psychiater, der mir das verschreibt."
"Hoffentlich bist du dann ehrlich und kannst das Zeug absetzen."
"Mal schauen."
Ich sah wieder hoch.
"Siehst viel besser aus."
"Wie?"
"Nicht mehr so... naja... knochig."
Ich schaute wieder auf den Kiesweg, als wäre er interessanter als Kaia.
"Bin noch am zunehmen."
"Ja... was sagt man da... viel Erfolg beim Zunehmen, denk ich?"
Sie schmunzelte.
"Altan?"
"Hm?"
Ich sah direkt in ihre Augen.
"Hör mir zu."
"Ich hör dir zu."
"Komm von den scheiß Drogen weg oder du siehst mich nie wieder. Du siehst aus wie ein Zombie, redest auch wie einer und schaust die ganze Zeit weg. Das ist scheiße, ich kann von uns beiden nicht die einzige sein, die WILL, dass es ihr besser geht."
"Äh..."
Ich schaute sofort weg.
Dieser eindringliche Blick hatte mein Herz zum Rasen gebracht.
Und wäre ich nicht auf zwei verkackten Xannys, hätte ich jetzt eine Panikattacke bekommen.
"Ich brauch den Scheiß aber. Wirklich. Ich hab'...", sollte ich ihr das erzählen?
"Du hast?"
Ich konnte ihren Blick auf mir ruhen spüren.
"Ich hab' 'ne Panikstörung", presste ich zwischen meinen Lippen hervor, "da hilft kein Baldrian. Ich brauch Benzos, und die sind gefühlt alle gleich. Scheißegal, ob ich jetzt Alprazolam, Diazepam oder Lorazepam krieg', es läuft auf's gleiche hinaus. Ich missbrauche die Pillen so oder so, egal, was es ist. Ohne den Scheiß kann ich nicht mein gewohntes Umfeld verlassen."
"Warum?"
"Wie 'Warum', bist du blöd? Wieso wolltest DU dich zu Tode hungern?"
Sie schwieg und war wieder mal kurz vor'm Heulen.
"Ey, sorry, man. Hab' das nicht so gemeint."
Ich nahm sie in den Arm und streichelte über ihren Kopf.
"Bin immer noch unsensibel, das wurde nicht austherapiert."
Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen.
"Gut, du nimmst weiter das Zeug. Aber nicht in dem Ausmaß."
"Wie viel soll ich denn lassen."
"Zwei weniger am Tag."
"Lässt sich schon irgendwie einrichten."
Sie lächelte, aber wurde kurz darauf wieder ernst.
"Altan, da ist noch was."
"Ich höre."
"Ich... hab' mich in dich verliebt."
"Oh. Ja... weiß nicht. Ich mag dich schon. Sehr. Ich fühl' mich auch von dir angezogen und so, aber Liebe..."
Ich seufzte und sah in ihre traurigen Augen.
"...aber was noch nicht ist, das kann noch werden."
Sie lächelte.

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt