II

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Ich starrte an die Decke.
Jetzt war der Punkt angekommen, an dem ich meinen Bedarf brauchte.
Scheiße, ich hatte so verkackt.
Ich MUSSTE mit jemandem darüber reden.
Aber mit wem...
Ganz sicher nicht mit irgendeinem PED.
Oder irgendwem, der mich dann analysieren würde und für alles einen Grund finden wollte.
Ich musste mit ihr reden, mit niemandem sonst.
Ich kratzte über meine Arme.
Die Fäden waren immer noch drin, wurden mir erst morgen gezogen.
Ich atmete noch ein Mal tief durch, ehe ich über den Gang schlich und nach der Tür Ausschau hielt, an der Kaias Namensschild hing.
Zögerlich klopfte ich an die Tür.
Sie war mit dieser komischen Amelie im Zimmer, die mich immer so verurteilend anschaute.
Und bei meinem Glück machte natürlich, wie konnte es auch anders sein, diese die Tür auf.
Ich seufzte.
"Ist Kaia da?"
Sie musterte mich von unten nach oben.
"Warum?"
Ich seufzte und kaute meinen Daumennagel.
"Ich will mich entschuldigen", presste ich zwischen meinen Lippen hervor.
"Sie kommt gleich, aber wenn du ihr noch mal weh tust, kastriere ich dich von Hand."
"Ich hab' nicht vor, ihr noch mal weh zu tun. Sonst würde ich mich nicht entschuldigen."
"Hm. Kaia?"
Eine genervte, zugegebenermaßen ziemlich leicht bekleidete Kaia trat in mein Sichtfeld.
"Tut mir leid", sagte ich nun etwas selbstbewusster.
"Was tut dir leid?"
"Dass ich dich geschubst habe."
"Sonst nichts?"
"Ich schulde dir keine Erklärung."
"Oh doch, egal wie sehr du dir das einredest."
"Gut!"
Ich schaute schnell nach links und rechts und verschwand im Zimmer.
"Das darfst du nicht", zischte Amelie.
"Sei leise, Kaia ist wohl felsenfest davon überzeugt, dass sie alles wissen will. Also erzähle ich ihr alles."
Kaia schaute mich angepisst an.
"Altan, mach nicht so 'ne Show. Gib' einfach zu, dass du was falsch gemacht hast."
"Ich mach keine Show!"
"Los jetzt. Erzähl' mir ALLES."
"Wenn Amelie irgendwie Musik hört oder so, ich will das DIR erzählen, verstehst du?"
Kaia warf Amelie einen Blick zu, diese zuckte nur mit den Schultern und steckte sich Kopfhörer in die Ohren.
"Gut."
Ich atmete tief durch.
"Ich erzähl' dir die Kurzversion."
"Okay, aber jetzt fang doch mal an?"
"Als ich dir letztens... also was heißt letztens, wir waren da zwölf - aus dem Weg gegangen bin, hatte ich einen scheiß Joint in der Hand.
Meine Eltern durften auf keinen Fall davon erfahren.
Und du auch nicht, weil ich Angst hatte, dass du mich dann hassen würdest oder so, keine Ahnung.
Aus dem Joint ist eine Crackpipe geworden.
Aus der Crackpipe eine Methpipe.
Aus der Methpipe diverse Opioide.
Und du solltest den Scheiß einfach nicht mitkriegen, okay? Ich hätte dir schreiben können, aber war dauerhigh.
Seit zwei Jahren bin ich jetzt mehr oder weniger nüchtern, aber auch nur, weil ich im Knast auf Wish bestellt war.
Da hat man halt kein Handy, meine Fresse.
Beim Elterngespräch hat mich mein Vater geschlagen, auch super gelaufen, und ich war voll aggro und verwirrt deswegen. Außerdem haben die mir fucking Fentanyl gegeben als Schmerzmittel, klar bin ich bisschen auf Entzug."
"I- ich..."
"Du musst nichts sagen. Aber du warst in meiner Nahtoderfahrung. Deswegen war ich auch noch 'bisschen verwirrt."
"Warum bist du hier?", fragte sie und schaute mich mit wässrigen Augen an.
"Das darf ich dir nicht sagen. Das triggert dich."
"Mich triggert sowieso nichts außer eine kleine Sache, mit der ich sowieso jeden Tag konfrontiert werde."
"Gut, Suizidversuch. Deswegen Fentanyl und Nahtoderfahrung. Und was triggert dich bitte, womit du jeden Tag konfrontiert wirst? Ist ja grausam."
"Essen", flüsterte sie, "kannst du jetzt gehen?"
Ich nickte und schlich zurück in mein Zimmer, wo ich weitere dreißig Minuten an die Decke starrte und keinen Schlaf fand.
Jetzt so ein kleines Pflaster Fentanyl.
Nur so ein gaaanz kleines.
Vielleicht ein mittelgroßes.
Aber würde ich jetzt sagen, ich hätte Kopfschmerzen oder so, würden die mich mit 'ner Ibu oder Aspirin ins Bett schicken.
Was eine Scheiße.
Aber wenigstens eine Xanny konnte ich mir abholen.
War echt ein harter Tag gewesen.
Also stand ich doch noch mal auf und klopfte leise an die Tür vom Büro.
"Nächstes Mal klopfst du bitte wieder so, und nicht so, als ob jemand gestorben wäre", murmelte die, die mit mir im Timeout war.
"Was brauchst du denn?"
"Meinen Bedarf."
Sie nickte.
"Komm mit."
Sie gab mir einen Becher Wasser und eine Xanax.
Mit einem Schluck war die Tablette unten.
"Gute Nacht", sagte sie und gähnte.
"Nacht."
Ich legte mich wieder in mein Zimmer.
Auf ein neues.
Ich zog den Ärmel meines Hoodies hoch und wickelte langsam den Verband von meinem rechten Arm.
Ich hatte ein bisschen Angst.
Wie es aussehen würde.
Ich wusste, das war eine dumme Idee gewesen.
Ich lebte ja noch.
Und hatte jetzt drei riesengroße Narben auf meinem Körper, die absolut nicht zu übersehen waren.
Die letzte Schicht Mullbinde rutschte von meinem Arm und ich biss auf meine Lippe.
Ach du Kacke, sah das scheiße aus.
Die Wunde zog sich ein Mal über meinen Unterarm und war richtig tief.
Der Faden juckte unfassbar und ich kratzte ganz vorsichtig drüber.
Ich fragte mich, wie es morgen werden würde.
Beim Faden ziehen.
Ich hatte vom Nähen selbst ja nichts mitbekommen.
Da war ich tot.
Ich schluckte und strich über meinen Arm.
Es war einzig und allein meine Schuld, und ich musste damit klar kommen.
Vorsichtig kratzte ich ein letztes Mal über die Wunde und wickelte wieder den Verband um meinen Arm.
Meine Fresse, warum hatte ich mich nicht einfach erhängt.
Mit meinem Schnürsenkel oder so.
Wäre effizienter gewesen und ich wäre jetzt nicht hier, in der Klapse.
Was eine dumme Scheiße.
Dann wäre ich nicht von meinem Vater geschlagen worden und niemand hätte je erfahren, was damals passiert war.
Es war mir einfach so rausgerutscht.
Ich starrte an die Decke.
Was passierte jetzt eigentlich?
Alles, was ich hoffen konnte, war, dass ich entweder erst mit achtzehn hier raus kam und dann vom Jugendamt irgendwie eine Wohnung bekam.
Oder, dass mein nächster Versuch klappen würde.

sechs minuten und dreißig sekunden im himmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt