~ Spiegel ~

80 5 4
                                    

Es war dunkel und still. Mondlicht fiel durch die Fenster in das kleine Zimmer. Die holzgetäfelten Wände des Raumes waren über und über mit Kreide bekritzelt worden, Worte, Satzfragmente, lose Bruchstücke von Gedanken, wie im Wahn auf dem dunklen Holz festgehalten. Der Boden war bedeckt mit engbeschriebenen Papier- und Pergamentbögen, abgegriffene Bücher stapelten sich in einer Ecke. Staub und Dreck schien sich überall anzusammeln, die Bleiglasscheiben waren an einigen Stellen geborsten. Kerzenstummel, Wachsreste, Federn, Tintenfässer und -flecke verteilten sich in einem wilden Durcheinander über einen kleinen Schreibtisch, auf dem mehrere aufgeschlagene, alte Bücher lagen. Der Tisch stand neben der Tür gegenüber den Fenstern, daneben ein Bücherregal und ein Bett. Eine metallene, mit Wasser gefüllte Schüssel fand ihren Platz auf einem Tischchen, über dem ein verstaubter Spiegel hing. Auf dem Bücherregal hockte ein rot gefiederter Phönix, schlafend.
Die Silhouette eines Mannes zeichnete sich unter der Bettdecke ab.

Er wurde durch den Schmerz wach. Schmerz, der von Sekunde zu Sekunde immer stärker werdend seinen ganzen Körper ergriff, bis er nicht mehr wusste, wo der Ursprung der Schmerzen lag. Credence hatte das Gefühl, als würde seine Haut in Flammen stehen, als würde er bei lebendigem Leibe verbrennen, der Obscurus brodelte und pulsierte unter der Oberfläche, raubte ihm die Kräfte und ließ ihn vor Schmerzen windend zurück. Wie hatte er je auf den Gedanken kommen können, die Macht des Obscurus für sich nutzen, ihn unter Kontrolle bringen zu können? Denn jetzt, wo er mehr und mehr die Kontrolle über diese dunkle, finstere Macht gewann, schien sie ihn von innen zu zerfetzen.

Es war jedes Mal schmerzhaft gewesen, wenn der Obscurus die Kontrolle erlangt hatte, wenn sein Körper von der schwarzen Masse schier auseinandergerissen wurde, wenn er das Gefühl hatte, keinerlei Macht mehr darüber zu haben, wenn der Obscurus für ihn entschied und infolge dessen alles niederriss, zerstörte und vernichtete, was ihm gefährlich werden konnte. Momentan würde der Obscurus nicht hervorbrechen, doch der Schmerz blieb und die Zeit schien sich ewig in die Länge zu ziehen. Dieser quälende, stechende, pulsierende, heftige Schmerz, der fortwährend in seinem Körper wütete. Er konnte nichts dagegen tun, außer es irgendwie auszuhalten, abzuwarten, auszuharren, bis die Schmerzen allmählich abebbten, was mitunter Stunden dauern konnte. Jeden Tag wurde er von dem Obscurus in seinem Inneren gequält und er litt unter den Schmerzen. Doch Grindelwald kümmerte sich nicht darum, solange Credence aufrecht stehen und kämpfen konnte, war es dem Schwarzmagier einerlei, ob er litt. Credence wusste, dass seine Tage bereits gezählt waren. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der Obscurus auch jedes bisschen Energie ausgesaugt haben würde, wenn er nicht vorher schon durch die Schmerzen starb. Sein Körper würde diese Tortur nicht ewig mitmachen.

Angst und Verzweiflung griffen nun nach Credence, doch selbst die von tiefem Leid getränkten Gedanken waren, ebenso wie die Schmerzen, für ihn unmöglich zu beschreiben, oder in Worte zu fassen. Credence wusste, irgendwann würde er sich an den Schmerz gewöhnen, so wie er sich an jeden Schmerz gewöhnt hatte, den er je hatte erdulden müssen. Auch an die Schläge von Mary Lou hatte er sich gewöhnt, auch wenn er jedes Mal still um Gnade gebettelt hatte. Doch schnell hatte Credence gemerkt, dass sich seine Adoptivmutter nicht erweichen ließ, und so hatte er die Strafen ausgestanden, die Tränen heruntergeschluckt, die Schmerzen akzeptiert. Doch die Wunden reißende und scharfe Gürtelschnalle war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den der Obscurus ihn spüren ließ.

Er lag zusammengekrümmt in seinem Bett, gequält werdend von der eigenen Magie, die sich aufgrund Jahrelanger Unterdrückung dieser zu einem zerstörerischen, finsteren Parasiten entwickelt hatte.

Ob es überhaupt noch eine Rettung für ihn gab?
Konnte der Obscurus von ihm getrennt werden?

Er verbot sich jeden Gedanken daran, denn dann würde unweigerlich die Hoffnung kommen, doch er wollte nicht mehr hoffen. Die Hoffnung hatte ihm noch nie etwas gebracht, außer später das grässliche Gefühl, erneut enttäuscht worden zu sein. Hoffnung sorgte nur dafür, dass er sich letztendlich noch miserabler fühlte. Sein Köper wurde schon genug malträtiert, er wollte nicht auch noch seine Seele quälen, indem er auf etwas hoffte, das niemals eintreffen würde. Bald würde er sterben und dann würde er wenigstens nicht mehr leiden müssen.

Die Rückkehr des Sohnes Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt