-1- Ängste und Vertrauen

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Kay:

Hass, die einzige Emotion, die ich fühlte.
Rot, der einzige Farbton, der die Welt zeichnete.
Töten, ein unstillbares Verlangen, das meinen Körper vorwärtstrieb.
In meinem Inneren tobte ein Wirbelsturm, der alles vernichtete. Jeder Gedanke, dessen Gestalt sich formte,jedes Gefühl, welches darum kämpfte, wahrgenommen zu werden. Sie alle wurde versanken im Chaos der wütenden Dunkelheit, bis sie sich restlos auflösten.
Mir fehlte jedwedes Gefühl für meinen Körper. Es war, als würde ich lediglich als Geist existieren. Ein Hauch Existenz, der kaum an die Außenwelt gelangen konnte.
Für wie lange mich dieser Zustand gefangen hielt, konnte ich nicht sagen. Zeit spielte in diesem Zustand keine Rolle mehr.

Nichtsdestotrotz zog sie unaufhörlich vorüber. Und mit ihr der Sturm.

Ich erlangte wieder mein Selbst. Langsam, aber sicher erschloss sich mir die reale Welt.
Zuerst kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück.
Ihm folgten die Wahrnehmungen meiner Sinne.

Das Erste, was ich hörte, war der Laut eines erstickenden Röchelns.
Doch die Luft durchströmte ungehindert meine Lunge.

Das Erste, was ich schmeckte, waren die eisernen Annoncen von Blut.
Doch mein Körper zeigte sich unversehrt.

Das Erste, was ich roch, war Angst.
Doch mein Geist war frei von jenem.

Mit noch getrübtem Blick sah ich mich um. Anfangs richteten sich meine Augen dem gewittergrauen Himmel entgegen. Schwer lastete dieser über der Welt, so als wolle er jeden Moment herabstürzen.
Die hineinragenden Arme der knorrigen Bäume erschienen schwarz und verdorrt.
Mein Blick sank.
Als er den toten Boden streifte, drückte das Gewicht eines Felsbrocken auf mein Herz. Das Ausmaß der Zerstörung zeigte sich unverkennbar.
Vom Waldanfang bis zu mir reichend spickten den Boden eine ungeheure Zahl regloser Wolfskörper. Allesamt sahen sie schrecklich aus. Klaffende Wunden durchzogen an vielen Stellen ihr Fell. Das Gras nah ihnen war zertrampelt und gefärbt vom Blut.
Wer die Gefallenen einst gewesen waren, konnte ich nicht erkennen, doch durch ein mir unverständliches Bewusstsein gab es keine Zweifel daran, dass  ich sie getötet hattet.

Das leise Röcheln, welches der Schock zuerst ausgeblendet hatte, drang nun wieder zu mir durch. Es löste meine Starre gerade so weit auf, dass meine Augen seinen Ursprung suchen konnte.
Und sie fanden ihn vor meinen eigenen Pfoten. Dieses Mal schien mein Herz gänzlich stehenzubleiben.
Dort im Schlamm aus geronnenem Lebenselixier und Dreck lag ein brauner Wolf. Den Rücken zu mir gewandt und zitternd vor Schmerz wehrte er sich gegen das Unvermeidbare.
Sein Röcheln war das eines gegen den Tod ankämpfenden Tieres. Es rührte von einer tiefen Wunde an der Seite seines Halses, aus der das Blut ungehemmt herausströmte.
Sekunden, die sich zu einer kurzen Ewigkeit streckten. Ein letzter verzweifelter Laut, ein letztes Zucken der Muskeln, dann erstarben die Geräusche völlig.
Die quälende Angst wich aus den blaugrauen Augen zusammen mit jeglichem Schein des Lebens. Dann war es vorbei.

„JACK!"

Mit einem Satz sprang ich an seine innere Seite. Ich beugte den Kopf zu ihm runter, stupste ihn vorsichtig mit der Nase an, in der Hoffnung, er würde sich wieder regen.
„Jack, JACK. Wach auf!"
Mit der Zunge fuhr ich über seine Wange, leckte das Blut aus seinem Gesicht, hoffte ihn dazu zu bringen, aufzuwachen.
„Mach die Augen auf. Du darfst nicht...nein, du darfst nicht sterben."
Winselnd legte ich mich an seine Seite und drückte meinen Kopf gegen seine Wunde, damit das Blut doch endlich stoppen würde.
>>Das ist meine Schuld. Ich habe ihn getötet.<<
Das heiße Rot mischte sich mit dem Kalten in meinem Pelz.
Ich erhob mich wieder, fuhr ängstlich mit der Schnauze über Jack's Körper, betete,einen schwachen Atem oder sein Herz schlagen zu hören. Nichts dergleichen widerlegte seinen Tod.
Stattdessen sah ich nun die vielen Bisswunden. Schulter, Bauch, Flanke, überall war sein Fell zerzaust und wies Spuren gnadenloser Zähne auf.
Der Kampf musste nicht allein tödlich, sondern unaussprechlich grausam gewesen sein.

„Das ist meine Schuld." Stumme Tränen lösten sich von meinen Augen. Mein Blick richtete sich wieder auf Jack's Gesicht.
„Es tut mir leid." Heiser drangen die Worte durch die unberührte Stille. „Ich wollte das nicht, nein, ich wollte das nicht. Bitte verzeih mir, Jack, bitte wach auf. Ich bitte dich. JACK!"


Mit Tränen in den Augen und hämmerndem Herzen wachte ich auf. Den Blick zur Decke gerichtet, wurde mir klar, wo ich mich befand.
>>Es war nur ein Traum<<
Wie schon viele Male zuvor ließ die Erkenntnis den Stein auf meiner Brust leichter werden. Dennoch brauchte es einige bewusste Atemzüge, damit sich mein Herz wieder halbwegs beruhigte. Um auch das letzte Gefühl der zurückgebliebenen Angst zu vertreiben, wandte ich mich vorsichtig zu Jack um. Das Wissen allein reichte nicht. Ich musste sehen, nein, fühlen, dass es ihm wirklich gut ging.
Mein Gefährte lag friedlich neben mir und schlief.
Im Gegensatz zu meinem ging sein Atem ruhig und gleichmäßig. Ich streckte langsam meine Hand nach seiner Wange aus. Ein Nachbild zuckte vor meinem inneren Auge. Eine Sekunde ließ es mich zögern, doch in der nächsten Sekunde schüttelte ich es ab.
Die warme Haut unter meinen Fingerspitzen zeugte von dem Leben, dass durch seine Adern floss. Nun wich der Druck endgültig aus meiner Brust.

Erleichtert legte ich meine Stirn an die Seine. Noch einige Minuten drängten sich weitere Erinnerungen aus dem Traum in den Vordergrund, doch je weiter ich mich auf Jack's Nähe konzentrierte, desto blasser wurden sie. Sein vertrauter Geruch nahm mich ein. Von der Vertrautheit seiner Nähe umhüllt, holte mich der Schlaf wieder zu sich.


Die Stunden verstrichen, ohne eine Wiederholung des zuvor Geträumten. Schließlich kündigte der Wecker lärmend den Tagesbeginn an. Brummend suchte ich nach der Schlummertaste. Während meine Finger noch blind auf dem blöden Ding herumtasteten, reckte sich mein Gefährte neben mir.
Aus dem Halbhellen des Zimmers schimmerten mich seine mausgrauen Augen verschlafen an. Endlich fand ich die richtige Stelle am Wecker.
„Guten morgen", begrüßte mich Jack's Morgenstimme unterstützt durch ein schüchternes Lächeln.
Als Antwort küsste ich ihn auf die Stirn.

Alles weiter verlief nach unserer täglichen Morgenroutine.

Mit einer Ausnahme:
Heute ertönte kein störendes Klopfen an der Zimmertür. Dabei ließ dieses mindesten jeden zweiten Tag, den ich bei Jack schlief nie auf sich warten.
Der Blondi Niko schien heute ausnahmsweise eine bessere Beschäftigung gefunden zu haben. Und das sollte was heißen.
Sonst schien es seine absolute Priorität zu sein, uns auf diese Weise zum Frühstück zu rufen, bevor wir uns mit dem Rest seiner Gruppe neben dem Wohngebäude trafen.
Für Jack war es eine fürsorgliche Erinnerung. Für mich hingegen schien dieses akustische Signal eine Art Kontrolle und gleichzeitige Warnung zu sein. Ganz nach dem Motto: „Er mag dir vertrauen, aber ich habe immer ein wachsames Auge auf dich." Oder so ähnlich.
Als Jack und ich ein Paar wurden, schlossen wir Rudelführer zwar Frieden, doch von Mögen konnte keine Rede sein.
Er traute mir nicht und ich wollte erst recht keinen weiteren Alpha in der Nähe meines Gefährten wissen.

„Können wir los?",fragte ich, wartend an der Tür.
„Ja, bin soweit.",kam sogleich die Antwort. Auch im Flur war niemand.
Nicht, dass es mich störte. Ich teilte Jack so oder so generell nur ungern.

An der Sammelstelle angekommen, warteten bereits die anderen Jungs aus Jack's Freundesgruppe. Die Mädchen näherten sich uns ebenfalls. Langsam erschien das Fernbleiben des Blondschopfes immer ungewöhnlicher.
>>Vielleicht habe ich heute mal einen Tag Ruhe<< ging es mir mit einer gewissen Befriedigung durch den Sinn.
Derweilen beschleunigte mein Partner kaum merklich seine Schritte.
Gewissermaßen zurückhalten und dennoch mit der funkelnden Freude eines einjährigen Welpens begrüßte er seine Freunde.
„Hey. Guten Morgen."
„Moin Moin", „Hey, Jack..." Der Rest altbekannte Floskeln.

Jack's aufgeregtes Auftreten gehörte zu den Eigenschaften, die ich am meisten an ihm lieben lernte. Lange benahm er sich ganz seines Ranges entsprechend. Zurückgezogen, ruhig, ja beinahe wie ein Geist zog seine Gestalt auf dem Gelände der Schule umher.
Doch hier, unter seinen Freunden, zeigte sich seine gänzlich andere, viel aufgewecktere Seite. Er war selten übermütig, doch stets voller Begeisterung.
Zum Glück durfte auch ich an diesem neuen Selbst teil haben. Zu Beginn herrschte eine anfängliche Scheu, aber bald zeigte er sich mir immer offener. Sein Vertrauen in mich, trotz der vergangen Fehler, wollte ich ihm tausendmal zurückgeben.

Mein Gefährte, wandte sich mir gerade zu, als zwei weitere Personen in mein Blickfeld traten.
Zu meiner Überraschung handelte es sich um die blonde Nervensäge und neben ihm ging meine Kindheitsfreundin Mira.
Misstrauisch hob ich eine Braue. Die zwei strahlten eine seltsame Vertrautheit aus.
Mein Blick fiel auf ihre verschränkten Finger.

>>Das darf doch wohl nicht wahr sein<<

Afraid of the Alpha: new LifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt