VI

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Heini wusste nicht so ganz, wie ihm geschah, da riss Elothon ihn bereits hoch. Der Lord zerrte ihn aus seinem Verlies. Gemeinsam rannten sie durch die Gänge, lugten heimlich um Türen und verschwanden dann schließlich durch die Gartentür.

Draußen war finstere Nacht. Kein Stern war zu sehen, nicht einmal der Mond spendete wie sonst seinen silbernen Schein. Sie stolperten über die gepflasterten Wege, nicht selten liefen sie auch in die Rosenhecken, die die Pfade eingrenzten. Schon bald zogen sich schmerzhafte Striemen über ihre Gesichter.

Irgendwann, Heini hatte das Zeitgefühl verloren, verließen sie das Gelände und wanderten durch wilden Wald. Immer vorwärts ging es, hinauf und hinab, dann waren sie endlich am Ziel angekommen. Ein Wunder, dass der Morgen noch nicht graute.

Elothon holte eine Laterne unter seinem Umhang hervor, die er umständlich anzündete. Dann leuchtete er damit die Umgebung ab. Heini schreckte zurück. Sie befanden sich auf einem Felsvorsprung, und direkt vor ihm brach die Erde weg und öffnete sich zu einer riesigen Schlucht. Wer hier hinunterstürzte, war verloren.

Heini schwindelte erneut, als er den Abgrund vor sich sah. Schwankend und zitternd setzte er sich hin.

„Was wollen wir hier?", fragte er entsetzt. Elothon sah ihm ruhig in die Augen, das flackernde Licht der Laterne gab seinem entschlossenen Gesicht einen irrsinnigen Ausdruck.

„Ich werde beenden, was ich begonnen habe." Mit diesen Worten stellte er die Laterne ab, trat näher an den Abgrund heran und breitete die Arme aus. Heini traute seinen Augen nicht.

„Nein, stopp!", schrie er mit erstickter Stimme, „Mylord, tut das nicht!"

Elothon wandte sich nicht um, er sah weiter geradeaus, dahin, wo die andere Seite der Schlucht sein musste. Nach einigen Momenten drehte er sich doch um, grün im Gesicht.

„Ich dachte, ich wäre stärker", stammelte er, bevor er kraftlos zu Boden sank.

Heini fasste sich ein Herz. Der Lord hatte hier offensichtlich etwas vor, was nicht geschehen durfte. Genau dies konnte die Weltordnung zum Einsturz bringen. Wenn einer starb, dann er – auch wenn er sich das nicht gerne eingestand. Er alleine hatte jetzt die Macht, etwas daran zu ändern. Er war jetzt nicht der Bauer Heinrich, der noch immer nicht verstand, wie er in diese Lage hatte kommen können – er war jetzt Heini. Er war der Meister dieses Häufchens Elend. Darum stand er auf, pflanzte sich vor Elothon und sah streng auf den Lord hinab.

„Lord Elothon, ich, Heinrich, verbiete Euch, in den Selbstmord zu gehen."

Von den Schultern des Sitzenden fiel eine große Last ab. Vielleicht würde dies ja doch noch gut ausgehen? Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose, nahm die Laterne auf.

„Nun denn, dann hat das Schloss wohl einen neuen Bewohner." Der alte Weise würde seine Jäger schicken, sobald er erfuhr, dass beide weiterlebten – aber bis dahin hatten sie Zeit, eine Lösung zu finden. Vielleicht würde ja doch noch alles gut werden.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2022Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt