Das Geheimnis

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Ich kniete mich zu ihm auf dem Boden, wo er immer noch wimmernd kauerte und kaum ansprechbar war. Keines meiner Worte schien ihn zu erreichen, deshalb schüttelte ich ihn leicht, bis sein leerer Blick endlich meinen streifte. Ich half ihm auf und setzte ihn auf das Bett, bevor ich in die Küche eilte um ein Kühlpack zu holen. Als ich wieder ins Zimmer kam, wischte sich Joel die letzten Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Auch ich hatte kurz in der Küche geweint. Es war eine Mischung aus Wut, Entsetzen und Mitgefühl die sich langsam den Weg nach draußen gekämpft hatten. Der Alkohol hatte dies alles noch multipliziert.

Ich setzte mich neben ihm aufs Bett und legte das Kühlpack vorsichtig an seine Wange.
„Das ist nicht nötig."
„Joel, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir so leid."
„Ich wollte es ja so."
Er nahm mir das Kühlpack aus der Hand und legte es neben sich aufs Bett, dann nahm er meinen Zeigefinger und fuhr die Buchstaben auf seiner Brust damit nach. Ich hatte ihn nie wieder dort berührt, auch wenn die Haut an den Stellen vernarbt war, war sie trotzdem weich.
„CUD! Das steht für confessor ueri dei oder auch..."
„Bekenner des wahren Gottes", ergänzte ich. So gut waren meine Lateinkenntnisse gerade noch. Er nickte.

„Das ist der Name der Gemeinschaft aus der ich komme. Oder wie du es vielleicht nennen würdest: der Sekte."
Ich musste schlucken und zeitgleich fragte ich mich, wie blind ich eigentlich gewesen war.
„Deshalb deine Bibelfestigkeit."
„Ja, in meiner Kindheit gab es nicht viele Bücher für mich, außer der Bibel. Doch im Laufe der Jahre schlich ich mich immer öfters in die Bibliothek und entdeckte die Welt der Bücher. Meine Herkunft ist auch der Grund, warum ich das mit uns am Anfang nicht wahrhaben wollte, ich nicht fassen konnte, dass es wieder geschehen war."

„Seit wann warst du in dieser Sek... Gemeinschaft."
Ein Lächeln huschte kurz über sein Gesicht und es war ein absurder Anblick, die Augen vom Weinen verquollen und die linke Wange feuerrot.
„Wir können das Kind ruhig beim Namen nennen, denn wer seinen Mitgliedern so etwas antut...", er zeigte auf seine Brust,"... der hat keine andere Bezeichnung verdient. Wir, das heißt meine Familie und ich, traten der Sekte bei da war ich 7 Jahre alt. Wir waren vorher schon gläubige Christen und dann lernte mein Vater diesen Mann kennen. Von da an verbrachten wir jeden Nachmittag, alle Wochenenden und die Ferien dort."
„Aber du bist jetzt nicht mehr Teil von ihnen?!"
„Nein. Aber inzwischen fürchte ich, dass es niemals vorbei sein wird."
Er ließ den Kopf hängen.
„Wie seid ihr da rausgekommen?"
„Dank der Drogen. Durch das Geld, welches ich durch den Verkauf verdient habe, konnte ich meiner Mutter, meinen Schwestern und mir die Flucht ermöglichen."
„Und was ist mit deinem Vater?"
„Mein Vater ist ein Fanatiker, wir wussten, dass wir ohne ihn gehen mussten. Er hätte uns nie erlaubt zu gehen."
Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich eines nachts aus dem Haus geschlichen hatten und ab da an in Angst und Schrecken gelebt hatten.

„Wo sind deine Schwestern und deine Mutter jetzt?"
„Wo meine Schwestern sind weiß ich wirklich nicht. Meine Mutter ist an einem mir und meinen Schwestern bekannten Ort, aber zu ihrem und deinem Schutz kann ich dir den nicht sagen."
Er schien wirklich Angst um seine Familie zu haben. Aber welche Bedrohung konnte schon von einer christlichen Gemeinschaft ausgehen?
„Bist du mir böse deswegen?"
Er legte eine Hand auf meinen Arm. Mein Schweigen dauere wohl schon zu lange, aber er hatte mich mit so vielen Informationen konfrontiert, die ich erstmal verarbeiten musste. Doch noch fügte sich das Bild nicht ganz zusammen.

„Nein, warum sollte ich dir böse sein? Warum seid ihr da weg? Was war der Auslöser?"
Er stand auf und zog sich die Jeans und das T-Shirt wieder über und blieb dann mitten im Raum stehen.
„Zu einem, weil Esther zwangsverheiratet werden sollte. Das hat meine Mutter zum Umdenken bewegt und der andere Grund.... David bitte hass mich nicht dafür."
Er flehte mich regelrecht an, dann schaute er nervös im Zimmer umher und fasste sich ins Gesicht.
„Das Mal bekommen alle Männer kurz vor oder nach ihrem 18. Geburtstag. Frauen haben bei uns keinen Stellenwert, deshalb sind sie von der Reglung ausgenommen. Wir müssen uns diese Kennzeichnung verdienen, unsere Treue zur Gemeinschaft und zu Gott beweisen. Wie du dir denken kannst, habe ich dies getan."
Seine Stimme versagte.
„Du kannst es mir sagen, ich werde dich nicht verurteilen."
„Wirst du nicht? Ich könnte es verstehen, ich tue es ja selbst."
Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihn umarmt, aber ich warte die Distanz die er selbst zwischen uns geschaffen hatte.

At first sight - Liebe auf den ersten BlickWo Geschichten leben. Entdecke jetzt