Lina
„Du verarschst mich doch!" Bens Gesichtszüge spiegelten Fassungslosigkeit. Zähneknirschend fuhr Lina fort, obwohl es ihr enorm schwerfiel. Viele Jahre hatte sie sich dieses Gespräch vorgestellt, es immer wieder in Gedanken durchgespielt, sollte Ben jemals aus dem Koma aufwachen. Doch an diese Umstände hätte sie niemals gedacht. Obwohl es ihr in der Seele wehtat, verschwieg Lina ihm sogar etwas. Die ganze Sache mit Elias hatte sie weggelassen, da Ben auch ohne diesen Teil geschockt genug war. Die Tatsache, dass er eine Tochter hatte, und die vielen Jahre des Komas reichten erst einmal. Nachdenklich betrachtete sie ihren ehemaligen Freund, dessen Hände fahrig an seiner Jacke nestelten:
„Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich mir andere Umstände für unser Wiedersehen gewünscht hätte."
„Andere Umstände? Ein Engel hat mich darüber aufgeklärt, dass ich eine Tochter habe. Du erzählst mir, dass Gott Mist gebaut hat und nicht weiß, wie er das aufklären soll. Ich habe offenbar eine ganze Dekade im Koma gelegen und soll jetzt dafür sorgen, dass die Welt nicht untergeht? Ich bin mir sicher, keine Umstände der Welt hätten dieses Chaos wettgemacht."
„Naja, eigentlich soll ich dafür sorgen und du mir helfen." Lina lächelte. Diese kleine Spitze konnte sie sich nicht verkneifen, da Ben bei Problemlösungen gerne den Ton angab. Ein wenig beruhigte sie sein Ausbruch aber auch, da er ihr zeigte, dass sein Kopf sich längst mit dem Problem beschäftige. Ben neigte schon immer dazu, sich in Schwierigkeiten hineinzusteigern. Und das sorgte obendrein dafür, dass er von Fragen nach Linas Privatleben abgelenkt war. Ein Teil ihres Gehirns arbeitete bereits daran, wie sie ihm schonend die Sache mit Elias beichtete. Eine Sekunde später vergrößerte Ben dieses Problem erheblich. Er ergriff ihre Hände:
„Aber trotz aller Umstände ist es schön, dich wiederzusehen. Ich liebe dich."
Lina zwang sich zu einem Lächeln:
„Ich dich auch." Innerlich schluckte sie schwer. Zu ihrer eigenen Überraschung kamen diese Worte nur mit großer Mühe über ihre Lippen. Es fühlte sich so schrecklich falsch an. Die letzten sechzehn Jahre haben ihr Leben verändert und ihre Gefühle neu ausgerichtet. Bei dem Gedanken an Liebe und Partnerschaft dachte Lina nun zuerst an Elias und nicht mehr an Ben. Dieser holte sie wieder in ihre aktuelle Situation zurück:
„Und was machen wir jetzt? Du hast gesagt, Julie ist der Schlüssel. Sie hat keine andere Wahl, als unter allen Umständen die Rolle d'Arcs zu erfüllen, aber dafür müssen wir sie zuerst finden. Naja, und überzeugen."
Lina nickte nachdenklich:
„Die Hexenjäger wollten sie verbrennen und sagten, das könnten sie nicht innerhalb der Stadt tun."
„Soweit ich weiß, gab es an den Rändern der Stadt zu den Hochzeiten der Hexenjagd feste Plätze an denen sie verbrannt wurden. Vielleicht sollten wir nach einem solchen Platz suchen. Hast du da eine Idee?"
„Ja, möglicherweise. Ein gewisser Jemand hat in meinem Kopf einige Informationen zu dieser Zeit hinterlassen. Lass uns gehen."
Sie verließen die Schenke und eilten zum Stadtrand. Ihre schnellen Schritte klapperten über das Kopfsteinpflaster. In dieser Epoche ein Inbegriff der Straßenbaukunst. Auf dem Weg warf Lina Ben einen Blick zu und fragte sich, wann der Zeitpunkt für die ganze Wahrheit eintrat. Gott hatte ihr zwar gesagt, dass Julie sich an nichts erinnerte, aber es wäre nicht sein erster Irrtum und dann würde sie eine persönliche Katastrophe auslösen. Es stand außer Frage, dass Ben die Sache mit Elias nur von Lina erfahren durfte. Alles andere würde er vermutlich als bitteren Verrat auffassen. Wichtiger war in diesem Moment aber der Besuch von Julie bei de Baudricourt, damit dieser von der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Briten überzeugt wurde. Ohne genau zu wissen, woher sie den Weg kannte, führte Lina Ben durch die Gassen, bis sie wütendes Gebrüll hörten:
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1429 - Was, wenn Gott einen Fehler macht?
Historical FictionLina ist ziemlich überrascht davon, sich nach einem schweren Autounfall unverletzt in einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer wiederzufinden. Die Überraschung weicht aber schnell Bestürzung, als sie Gott höchstpersönlich gegenübersteht, der ih...