Wie viele Lieder

5. Küss ihn!

„Ich... Ich..."
„Nein Vincent. Du kannst hier nicht einfach aufkreuzen. Nach all dem was passiert ist."
„Aber... Es tut mir leid... Dag, ich..."
„Lass gut sein. Bitte lass mich in Ruhe."
Der Gitarrist drehte sich um und ging schnell in das Gebäude. Capi sah ihm sichtlich fassungslos hinterher.
„Spinnt der eigentlich? Warte hier Vinne. Du! Kannst du mir zeigen wo ich hin muss?"
Die junge Dame nickte und ging voraus.

„Heißt der Dude wirklich Dag?"
„Ja. Sogar Dag-Alexis. Ich weiß, klingt komisch."
„Und was ist dem sein Problem?"
„Lange Geschichte. Die hatten irgendwie was miteinander, waren aber nie wirklich zusammen, aber so inoffiziell schon. Dann hat Vincent ne andere geknallt. Eigentlich sein gutes Recht, aber Dag fand das halt nicht cool. Und dann haben sie sich richtig übel zerstritten. Und jetzt darf ich das wieder grade biegen."
„Kennt man. Nur normalerweise bin ich die Person mit der betrogen wird."
„Wie heißt du?"
„Ich bin die Jule."
„Vladislav. Heißt du wirklich so?"
Sie zögerte auffällig lange.
„Wie kommst du drauf?"
„Man sagt ja, dass so... Leute wie ihr immer Decknamen haben. Aber du musst nichts sagen. Ich wollt jetzt auch nicht... zu persönlich sein oder so..."
„Wenn du wüsstest wie wichtig das manchmal ist... Ich bin gerade wegen nem Stalker seit Wochen ständig bei der Polizei. Der ist wirklich so drauf wie Sido bei Carmen ey."
„Du kennst dich mit Deutschrap aus?"
„Ein bisschen. Und ja, ich kenn dich auch. Aber ich... keine Ahnung, mir ist das relativ egal, ich mach mir da nicht viel draus. Ich werds auch keinem erzählen oder so, keine Sorge."
„Oh... ja, ist ja okay."
„So. Hier die Tür. Ich geh mal wieder runter. Noch eine rauchen und dann gehts weiter."
„Kannst du kurz nach meinem Kumpel gucken?"
„Na klar. Viel Glück."
„Danke Bratina!"

Nachdem Jule wieder verschwunden war, hämmerte Capi an die Tür. Kurze Zeit später stand ihm ein zotteliger, aber eigentlich sehr nett aussehender Typ gegenüber und musterte ihn fragend. Einen Moment lang starrten die Rapper sich einfach nur gegenseitig an. Capi sendete ein Stoßgebet in den Himmel, darauf, dass Dag ihm noch nichts gesagt hatte.

„Ähm, Vladislav. Wir haben telefoniert."
„Ahh! Dag ist gerade sehr wütend an mir vorbeigerauscht, also wenn du ihn ansprichst, dann bitte vorsichtig. Das letzte Zimmer links."
Ferris machte einen Schritt zur Seite und ließ ihn rein.
„Danke, du bist echt korrekt. Ich vergess einfach mal, dass ich wegen dir meinen Porsche neu lackieren musste digga."
Ferris schien ein Licht aufzugehen.
„Du bist Capital Bra!"
„Reden wir nicht drüber."

Capi ließ ihn alleine an der Tür stehen und hastete eilig den Flur entlang. Er klopfte kurz an das letzte Zimmer des Ganges und trat dann einfach ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
„'piss dich!"
„So wird man doch gerne begrüßt, Bratan!"
„Du hast mir Vincent abgeschleppt!"
Capi setzte sich zu ihm aufs und legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter. Der andere sah ziemlich genervt und wütend aus, so wie er da auf der Bettkante saß und auf seinen Fingerknöcheln kaute. Etwas das er immer tat, wenn es ihm nicht gut ging.
„Lass einfach reden Bruder. Ohne Vincent. Ich will nur helfen."
„Ich meins ja auch nicht böse Capi, aber ich will das einfach nicht so."
„Warum nicht?"
„Weil er mich verletzt hat."
„Ich weiß. Und ich versteh das auch Bruder."
„Ich dachte das wäre was besonderes zwischen uns..."
„Ist es auch. Wenn du gesehen hättest, wie traurig Vinne die letzten Wochen war. Wie viele Liebeslieder er geschrieben hat. Für dich, Dag."
„Warum macht er dann sowas?"
„Alkohol, Dag. Alkohol."
„Toll, wenn ich ihm verzeihe, dann muss ich immer Angst haben, dass er fremd fickt, wenn er getrunken hat oder was?"
„Das hab ich nicht gesagt! Ich glaube er hat draus gelernt, Bra."
Dag wirkte nach wie vor wenig überzeugt, weshalb Capi die Festplatte aus seiner Tasche zog und auf Dags Laptop zeigte.
„Darf ich?"
„Meinetwegen."
Capi nahm sich den Mac und Steckte die Festplatte ein. Als er auf den Datenträger klickte, musste er etwas schmunzeln. Dort befanden sich geschlagene fünf Lieder die irgendetwas mit 'Dag' im Titel stehen hatten in einem Ordner namens 'Millionen Liebeslieder'.
„Der hat echt nichts besseres zu tun, oder?"
„Was? Zeig mal!"
„Ne ne, Bra. Ich such aus."
Nachdem er den Laptop so gedreht hatte, dass Dag nichts sehen konnte, suchte Capi einen Song aus, den er kannte und von dem er wusste, dass er gut war.

Doch wer weiß, kann doch sein, vielleicht hörst du diesen Song, ja

Die ganzen vier Minuten in denen der Song spielte hörte Dag konzentriert zu. Er schien wirklich jeden Ton und jedes Wort komplett in sich aufzunehmen. Doch seinen Ausdruck konnte der Rapper nicht deuten. Er zeigte so viele Emotionen gleichzeitig, wie nur Dag es konnte.
„Und was sagst du?"
„Das... war echt schön... irgendwie."
„Weißt du jetzt was ich meine digga?"
Dag seufzte und nickte ergeben.
„Er meints echt Ernst..."
„Sag ich doch die ganze Zeit! Jetzt geh runter und küss ihn! Los!"
„Wenn dann soll er schon hoch kommen!"
Jetzt war es an Capi, leise zu seufzen. Er nahm sein Handy heraus und schrieb Vincent, dass er hochkommen sollte.
„Er kommt hoch. Wehe du bist arschig zu ihm, Bratan. Dann gibt's Stress!"
„Jetzt beruhig dich mal. Ich mach was ich will!"
„Dag! Meinst du nicht es ist genug? Er hats doch verstanden, er hat sich entschuldigt, er betreut das zutiefst. Bitte rede normal mit ihm."
Bevor Dag antworten konnte klopfte es an der Zimmertür. Nach Capis „Komm rein, Vinne!" traten sowohl Vincent als auch Ferris ein. Der Hamburger blieb im Türrahmen stehen und Vincent setzte sich unsicher auf die andere Seite neben Dag. Seine Körperhaltung war zusammengesunken, er hatte absolut nichts mehr von seiner sonst so selbstbewussten Art übrig. Bei dem Anblick schien Dag sichtlich mit sich zu kämpfen. Schlussendlich gab er sich dann aber einen Ruck.

„Weißt du... vielleicht war ich zu hart zu dir. Ich hab dich ja nicht mal ausreden lassen."
„Es tut mir so unendlich Leid, bitte bitte verzeih mir. Nur dieses eine Mal. Ich hab so Scheiße gebaut. Ich schwöre dir, es würde nie wieder vorkommen. Du bist alles was ich brauche. Bitte."
„Versprichst du es wirklich? Auch nicht wenn du getrunken hast?"
„Ich verspreche es. Nie wieder."
Dag musterte ihn. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er langsam nicht mehr sauer sein konnte und einfach nur seinem Freund vergeben wollte. Auch Vincent schien dies bemerkt zu haben, denn auf sein Gesicht schlich sich langsam ein unfassbar liebevolles lächeln.

„Darf ich dich küssen?"
„Ich bitte darum!"

Vincent fiel Dag um den Hals und verband so sanft wie nur irgendwie möglich ihre Lippen miteinander.
In den Moment war einfach alles in Ordnung. Es gab nur noch sie beide.

Und und so bemerkte Vincent auch nicht mehr den tief traurigen Blick, mit dem Capi ihn musterte. Ferris allerdings tat das.
„Hey, alles gut bei dir?", flüsterte er.
„Will nicht drüber reden. Ich geh runter in' Puff."
„Ich komm mit."