S I E B E N U N D Z W A N Z I G

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Ich erzähle Los Carlos in groben Zügen wie Anabelle in den See schwamm, die Reaktionen der anderen darauf und auch das, was sie zu mir sagte. Dieser eine Satz, der damals so furchtbar pathetisch und überzogen in meinen Ohren klang, löst nun eine schwere Wehmut in mir aus.

»Ich atme, Harriet! Das Wasser ist meine Luft, so wahr ich hier stehe!«

»Können Sie sich vorstellen, was Anabelle damit gemeint haben könnte?«, fragt die Polizistin mit gerunzelter Stirn. Ich kann ein leises Lachen nicht unterdrücken, was das Stirnrunzeln ihrerseits nur noch verstärkt. Ich seufze. »Mit Poesie und sowas haben Sie eher nichts am Hut, oder?«

»Korrekt.«

Ich nicke. »Geht mir genau so. Ich denke, sie wollte damit irgendwas in der Richtung andeuten, dass sie sich im Wasser wohl fühlt. Keine Ahnung.« Sie notiert sich etwas. »Klingt logisch. Erzählen Sie weiter.«

Ich spüre, wie sich der Schweiß an meinen Achseln zu sammeln beginnt. »Es wurde dunkel. Auch wenn der Alkoholpegel bei Anabelle der stärkste war, sind zu diesem Zeitpunkt schon alle relativ dicht gewesen.«


»Wann genau?«

»Naja, gegen Abend eben. Neun, zehn Uhr? Hab leider nicht genau auf die Uhr geschaut. Wie gesagt, der Nachmittag bestand eigentlich nur aus Bier holen und am See rumblödeln. Nichts spannendes.«

»Hm. Sie meinen also, dass es ab Abend anders wurde? Keine Blödeleien mehr?«

Ich wiegele den Kopf. »Doch schon, nur bekam das Ganze einen anderen Charakter. Sie wissen ja, wie das ist, wenn Leute getrunken haben.«

»Erklären Sie es mir«, fordert sie ruhig. Ich kann ein Augenrollen unterdrücken. »Manche Menschen werden unter Alkoholeinfluss witzig, manche emotional, manche gereizt... war alles mit dabei. Es ist nichts weiter passiert, falls Sie sich das jetzt denken, keine Streits, oder sowas.«

»Ich denke gar nichts.« Das wage ich zu bezweifeln.

»Ich erinnere mich daran, dass alles ein wenig... heftiger wurde. Als hätte man den Regler leicht hochgedreht, oder sowas.«

»Heftiger?« Mein Gott, stellt sich diese Frau absichtlich so dumm? Ja, wahrscheinlich.

»Es war einfach nicht so wie am Nachmittag. Ganz andere Energie, lauter... Alkohol-geschwängert eben.«

Los Carlos gibt sich mit meiner Erklärung zufrieden.

»Wie genau ging der Abend aus?«

Mein Puls schießt wie auf Knopfdruck in die Decke. Ich schwitze noch mehr. Kann man mir das ansehen? Dass ich nervös werde? Scheiße, hoffentlich nicht.

Ich versuche meine Nervosität als Stressreaktion auf ein traumatisches Erlebnis zu tarnen und vergrabe seufzend das Gesicht in den Händen. Schwer fällt es mir nicht, da das Ganze tatsächlich traumatisierend für mich war und ist – allerdings überwiegt in diesem Moment die Angst davor, dass die Polizistin den Filmriss in meinem Kopf irgendwie erriechen könnte. Oder dass sie gerade mit einer Art Röntgenblick durch meine Schädeldecke schaut und meine Gedanken liest.

»Ich war nicht die Letzte, die ging, auch wenn ich davon ausgehe, dass wir alle etwa zur gleichen Zeit weg sind. Zumindest haben eigentlich alle darüber geredet, dass sie entweder müde sind, morgen früh rausmüssen, et cetera. Mallory ging vor mir, das weiß ich zum Beispiel. Die anderen müssen wohl nach mir weggefahren oder -gegangen sein.«

Los Carlos runzelt die Stirn. »Ich dachte, Sie sind alle gemeinsam gekommen? Warum dann nicht gemeinsam wieder gefahren? Vermutlich war Ihr Fahrer einfach zu betrunken, richtig?«

»Das auch eigentlich. Aber erstens, denke ich nicht, dass es ihn weiter interessiert hätte und zweitens, bin ich mir sicher, dass Kaden einfach keine Lust hatte, uns alle wieder zurückzukutschieren. Er meinte, dass er noch was vorhätte, aber ich habe den Verdacht, dass er einfach nur Vera, seine Ex, bumsen wollte.«

Sie hebt pikiert die Brauen und murmelt: »Verstehe.« Sie macht die altbekannte Bewegung, die mich zum Weiterreden animieren soll. Ich tue, wie mir geheißen und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals herunter.

Ich habe ein Problem. Denn genau an der Stelle, als Kaden verschwand und Vera ungefähr eine Viertelstunde später (sehr unauffällig), beginnt mein Filmriss. Jetzt muss ich mir etwas gutes überlegen, etwas, das Sinn ergibt und nicht besonders... merkwürdig scheint. Ich hole tief Luft.

»Bevor ich gegangen bin, verschwand Mallory noch, ich war dann die nächste. Anabelle spielte weiter ausgelassen im Wasser und Troy beobachtete sie dabei besorgt.«

»Wie sind Sie nach Hause gekommen?«, fragt sie jetzt. Etwas überrumpelt blinzele ich. »Ähm, zu Fuß. Hat zwar etwas gedauert, war aber nicht allzu weit weg.«

Los Carlos blättert in ihren Notizen und bleibt schließlich an einer Seite hängen. »Sie wurden auf Ihrem Heimweg vom Tankstellenbesitzer gesehen.« Ihr Tonfall klingt monoton. Ich bejahe.

Sie räuspert sich. »Er sagte aus, dass Sie scheinbar... ›Irgendwie komisch‹ gewirkt haben sollen.« Nicht nervös werden, Harriet.

Ich schnaube betont gelassen. »Ich war betrunken, falls es das ist, was er meinte.«

»Das weiß ich nicht.«

»Gut, ich weiß es auch nicht«, erwidere ich patzig. Mist. Ich fahre mir müde übers Gesicht. »Es tut mir leid. Meine Nerven liegen einfach blank.«

Die Polizistin nickt verständnisvoll. »Ist schon in Ordnung. Ich bin auch fast fertig mit meinen Fragen. Nur noch eine Sache...« Erwartungsvoll hebe ich die Brauen. Sie fixiert mich ernst.

»Wissen Ihre Eltern, dass Sie hier sind und nicht am Campus?«

»Nein, das wissen sie nicht. Und ich habe ein Interesse daran, dass das so bleibt.«

...

Nachdem Los Carlos gegangen ist, fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Das hat vor Allem damit zu tun, dass sie meinte, es gäbe an mich vermutlich keine weiteren Nachfragen. Ich hoffe wirklich, dass sie die Wahrheit erzählt und mich nicht mit irgendwelchen Lügen in Sicherheit wiegen will... zuzutrauen wäre es ihr auf jeden Fall.

Als St. John später nach Hause kommt, erzähle ich ihm vom Besuch der Polizistin. Er scheint nicht überrascht. »Ich dachte mir schon, dass sie noch nicht fertig mit dir ist.«

»Denkst du, dass sie es jetzt ist?«

Ich hebe sehr viel entspannter die Schultern als mir gerade zumute ist. »Keine Ahnung, ich gehe davon aus. Ich meine, ich hab ein Alibi, was will sie mehr?«

»Abwarten«, brummt St. John unheilschwanger, woraufhin ich genervt schnaube. »Echt, danke für den guten Zuspruch. Ist ja nicht so, dass ich nicht schon genug Stress mit der Scheiße habe!« Er sieht mich an, als wäre mir spontan ein zweiter Kopf gewachsen. Ich weiß auch nicht, warum ich plötzlich so gereizt und zickig bin. Bevor St. John sich irgendwie zu meinem Verhalten äußern kann, winke ich energisch ab und murmle: »Vergiss es einfach.«

Er tut mir den Gefallen und wechselt das Thema. »Hast du dir schon überlegt, dir einen anderen Job zu suchen?«

Überrascht blinzele ich. Tatsächlich habe ich das bisher noch nicht getan, da ich mit meinen Gedanken nur bei der Polizei und den jüngsten Geschehnissen war. Mein Kopf ist dermaßen voll, dass ich jeden Moment das Gefühl habe, er platzt wie eine Tomate, die zu lange an der Sonne gelegen war. Sehr morbide, Harriet. Aber scheinbar ist ›morbide‹ ein Teil meiner Persönlichkeit, welches in letzter Zeit besonders deutlich ans Licht getreten ist.  

Queen Of LungsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt