2. Kapitel

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Warum.
Ich weiß nicht, ob Karma oder eine andere höhere Macht mich für etwas bestrafen will, dass ich in der Vergangenheit getan habe, aber wenn es so ist, dann habe ich hiermit hoffentlich für meine Sünden gebüßt.

Ich sehe nicht nur aus wie ein Müllsack, ich fühle mich auch wie einer. Und während das nächste männliche Vogue Model in den Aufzug steigt, überlege ich, ob es noch etwas nützt, meine Nippel zu verdecken, nachdem er sie nicht nicht schon sehen konnte, weil ich ein beschissenes, sehr dünnes, weißes Top trage. Meine dunkelbraunen Haare, die mir bis knapp unter meine Brust reichen würden, habe ich zu einem hohen, unordentlichen Dutt gebunden, als ich vorhin mein Gesicht gewaschen habe und kann sie jetzt deswegen nicht nach vorne streichen.
Es nützt alles nichts, er hat mich längst wahrgenommen und als sich unsere Blicke kreuzen, wende ich schnell den Blick ab, damit er nicht merkt, dass ich ihn mehr als nur wahrgenommen habe.
Er ist bestimmt über 1,80 Meter groß, hat schokoladenfarbene Haut und einen Körper zum niederknien. Wortwörtlich.
Das schwarze enganliegende T-shirt schmeichelt seinem athletischen Körper und die kurzen Shorts in derselben Farbe machen mich mit seinen trainierten Waden bekannt, als er sich vor mich stellt und mir den Rücken zuwendet.
Und mir damit sein breites Kreuz demonstriert.
In der Zwischenzeit hat er schon den Knopf für eines der Untergeschosse gedrückt. Wahrscheinlich für eins mit Trainingsgeräten, wie mir seine Sporttasche verrät, die er sich über die linke Schulter gehangen hat.
Da fällt mir ein; ich habe ja immer noch keinen Fahrstuhlknopf gedrückt.
Da sich das Tastenfeld aber rechts neben der Aufzugtür befindet und ich somit an ihm vorbeigreifen müsste, lasse ich es sein und warte einfach, bis er ausgestiegen ist, damit ich das tun kann.

Als der Aufzug im zweiten Untergeschoss hält, die Türen sich öffnen und er aussteigen will, trete ich vor, um endlich den Knopf für das Erdgeschoss zu drücken, als er sich noch einmal umdreht. „Ich bin Kymani, falls du mich das nächste Mal fragen willst, ob ich 'nen Knopf für dich drücken könnte", sagt er lächelnd und denkt wohl, ich wäre bloß zu schüchtern gewesen, um ihn darum zu bitten.
Was denkt er, wie Alt ich bin ? Zwölf ?
Aber bevor ich ihm darauf antworten kann, hat er mir schon wieder seinen Rücken zugekehrt und läuft in Richtung der Schließfächer, die sich rechts an der Wand nebeneinander aufreihen.
Wieder alleine im Aufzug drehe ich mich um und sehe mich selbst in dem Spiegel, der die hintere Wand des Aufzugs ersetzt.
In Hello Kitty Shorts. Und Snoopy Hausschuhen.

Ein Knie auf dem Fahrersitz stützend, greife ich nach meinem Handy, das in dem Ablagefach neben den Getränkehaltern liegt und richte mich wieder auf, sobald ich es in der Hand halte. Ich schlage die Tür zu, schließe das Auto per Knopfdruck ab und möchte mich gerade auf den Rückweg machen, als ich auf das Display meines Telefons sehe, das mir 17 Anrufe in Abwesenheit anzeigt. Alle von Anonym.
Ich erinnere mich an das letzte Mal, als das passiert ist. Und dass es nicht gut für mich ausging.
Obwohl mein Herz einen Schlag aussetzt, um danach schneller weiterzuschlagen, beschließe ich die Anrufe fürs Erste zu ignorieren und zur Polizei zu gehen, sollten sie nicht aufhören, weil ich nicht überstürzt Anzeige erstatten möchte.
Vielleicht erlauben sich irgendwelche Kinder ja auch einen Spaß mit dämlichen Telefonpranks. Hoffe ich zumindest.
Daran glauben kann ich aber nicht so recht.

Da ich lange genug auf der Stelle stehe und mir allmählich kalt wird, mache ich mich schnell auf den Weg zurück ins Apartment und damit geradewegs in Reas warmes Bett. Als ich um die Ecke biege, vibriert mein Smartphone und zeigt mir einen weiteren anonymen Anruf an, der mich kurz so ablenkt, dass ich prompt gegen eine steinharte Brust stoße, die mich fast zu Boden warf, hätte eine Hand mich nicht noch rechtzeitig am Handgelenk gepackt und zurückgezogen.
Sobald ich wieder sicher auf den Beinen bin, möchte ich mich sofort für meine Unaufmerksamkeit entschuldigen und hebe meinen Kopf, nur um geradewegs in die schönsten Augen zu sehen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Blau und Grün. Grün und Blau.
„Pass doch auf wo du hinläufst", schnauzt er mich an, prescht an mir vorbei und lässt mich stehen. Einfach so.
Ich schaue ihm aus einem Reflex heraus hinterher, doch als ich mich umdrehe, ist von ihm schon nichts mehr zu sehen.

Im Aufzug denke ich noch immer an ihn und an sein unnötig unfreundliches Verhalten. Ich meine, ich hatte mich doch gerade entschuldigen wollen.
Aber abgesehen von seinem unfreundlichen Verhalten, ist dieser Mann der feuchte Traum einer jeden Frau. Groß- sehr groß-, muskulös mit einem Gesicht, dass ich gerne auf einer Leinwand betrachten wollen würde und so breiten Schultern, dass es schon als Angsteinflößend gilt. Ich hatte zwar nur wenige Sekunden, aber seine markanten, fast groben, Gesichtszüge, die geschwungenen Lippen und die dunklen Augenbrauen, die sich vor Ärger zusammenzogen und dieselbe Farbe haben, wie seine Haare, habe ich noch genau in Erinnerung. Auch weil ich erst vor 2 Minuten in ihn reingerannt bin.
Zumindest soweit ich das in dem spärlichen Licht beurteilen konnte, die von den Straßenlaternen ausgingen.
Ich glaube aber nicht, dass bessere Lichtverhältnisse, seinem Aussehen einen Dämpfer verpassen würden. Nein, mit Sicherheit nicht.
Dass er so unfreundlich zu mir war, liegt aber sehr wahrscheinlich daran, dass ich mit dem Kopf voran in ihn hinein gerast bin. Wenn ich überlege, dass mich beim Vorbeigehen jemand ein wenig gröber anrempelt, weil er sich eilig durch die Fußgängerzone schlängeln will, sackt meine Laune direkt in den Keller. Was in Manhattan nicht selten passiert. Eigentlich sogar täglich. Mehrmals. Da kommt es auch öfter vor, dass ich demjenigen eine Beleidigung hinterherrufe, wenn er sich dafür nicht entschuldigt.
Ich gebe den Menschen allerdings die Chance, sich zu entschuldigen. Jeder hat es mal eilig oder hat kurz nicht aufgepasst.

Ich lege mich ins Bett und nehme mein Handy zur Hand, um den Telefonwecker auf 6 Uhr Morgens zu stellen, als ich über den anonymen Anruf stolpere. Skeptisch sehe ich auch, dass eine Nachricht eingegangen ist und tippe auf die SMS von einer unbekannten Nummer und wünschte, sie nicht geöffnet zu haben.
Ich würd dich gerne sehen, Nailea. Meld dich bei mir, sobald du das hier liest, ja? Bitte, ich nehm auch schon lange nichts mehr, versprochen. Ich liebe dich.

Mich lieben? Mein Vater erinnert sich nur daran, dass er eine Tochter hat, wenn er Geld braucht, um sich seine Drogen finanzieren zu können. Als ich noch kein Geld verdient habe, hat er die Verantwortungen und Pflichten, die mit einem Kind einhergehen, nämlich gekonnt ignoriert.
Obwohl ich es besser weiß, kann ich die dumme Hoffnung nicht abschütteln, die mir zuflüstert, dass er ja vielleicht die Wahrheit sagt. Dass er wirklich aufgehört hat. Dass er mich wirklich sehen will. Dass er mich liebt.
Diese betrügerische Hoffnung ließ mich die Entscheidungen und das Verhalten meiner Eltern rechtfertigen, denen ihr eigenes Kind nicht wichtig genug war, um von dem Stoff die Finger zu lassen, der sie von innen heraus zerstörte und letztlich nichts als Schulden und Hass zurückließ.
Ich atme die angestaute Luft aus, schließe meine Augen und versuche die tiefe Enttäuschung nicht an mich ranzulassen. Ich bin nicht mehr das 11-jährige kleine Mädchen, das aus Angst, man könne ihr ihre geliebten Eltern wegnehmen, heile Welt spielte. Das aus Furcht mit niemanden darüber sprach, dass ihr Vater ein Junkie war und ihre Mutter ihr die Verantwortung zuschob, sich um ihren Vater zu kümmern.
Diese Angst wandelte sich in Trauer, als ihr schlimmster Alptraum Realität wurde und dann in Wut, als sie erwachsen war und sah- das erste Mal realisierte- was ihre Eltern ihr all die Jahre zugemutet haben.
Ich sage mir, dass er ein Junkie ist, dass er für ein paar Gramm seiner Droge alles machen würde.
Wieviel Wahrheit kann man einem Süchtigen schon zumuten? Er hat mich vor vielen Jahren gegen seinen Drogenrausch ausgetauscht und dass sich das ändern wird - dass er sich ändern wird - ist sehr unwahrscheinlich.
Ich kann ihn aber auch nicht ignorieren. Wenn er sich die Mühe macht, meine Nummer ausfindig zu machen und mir zu schreiben, bedeutet das entweder, dass er in Schwierigkeiten steckt oder dringend Geld benötigt. Ich habe meine alte Nummer gelöscht und mir, nach dem letzten Kontakt zu meinem Vater, eine neue zugelegt. Offensichtlich hat es ihn nicht davon abgehalten, mich anzurufen und mir zu schreiben, als er einsah, dass ich nicht rangehen würde.

Seufzend lege ich mein Telefon auf das Nachtschränkchen neben dem Bett und verschiebe eine Antwort auf seine Nachricht bis morgen, wenn ich nicht mehr so müde bin und einen klaren Kopf fassen kann.
Ich drehe mich auf meinen Bauch und versuche- das Kopfkissen fest umklammert- in dieser Nacht noch ein wenig Schlaf zu finden, bevor ich mich am nächsten Tag meinen Problemen stellen muss.


~1490 Wörter
Ein großes Dankeschön fürs Lesen, Sterne vergeben und kommentieren <3
Dann lesen wir uns im nächsten Kapitel wieder ;)

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