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Istanbul, 2019

Afet Öztopraks langen Haaren wehten wie wild um ihr schmales Gesicht, als sie an diesem Freitag Nachmittag gemeinsam mit mehreren dutzend anderen Einwohner und Touristen auf eines der vielen Schiffe Istanbuls stieg, um eine kleine Tour auf dem schwarzen Meer zu machen. Nach einem eiskalten und erbarmungslosen Winter schien hier endlich wieder die Sonne, was nicht nur Einwohner wie Afet, sondern auch hunderte von Touristen anzog, an denen sich die Dame nun entschuldigend vorbei quetschte, ein Sesamring in der einen Hand, eine Flasche Wasser in der anderen.

Lächelnd schaute sie den Touristen zu, die gemeinsam Fotos machten oder die Aussicht genossen; Sie konnte sich noch an ihre ersten Tage in Istanbul erinnern, als sie vor Jahren hierher zog. Diese Naivität, Unschuld und Bewunderung, die sie damals für diese Stadt empfunden hatte, war ein Gefühl, was bis heute noch anhielt – egal, wie viel Zeit vergeht, es gab nichts an Istanbul, was Afet nicht faszinierte. Vielleicht auch, weil das die Stadt der Liebe war; Zumindestens in ihrer kleinen Welt, denn Istanbul war die Stadt, in der Afet gefunden, aber auch verloren hatte.

Die ältere Dame drückte sich an den ganzen Touristen vorbei, um an die Treppen zu gelangen, die zum Balkon des Schiffes führten, während sie gleichzeitig betete, dass sie auch wirklich einen Platz findet. Manchmal bedrohte sie diese Masse an Menschen und sie wollte am liebsten schreien, doch als sie erfolgreich am Ende der Treppen ankam und direkt spürte, wie ihr die salzige Meeresluft durch die Haare wehte, war alles schon wieder ein kleines bisschen besser.

Für einen Augenblick blieb sie einfach nur so stehen, es war ihr egal, dass das für andere vielleicht komisch aussehen mag, und genoss die Brise, die ihr auf die alte Haut knallte. Über dem Schiff waren Vögel zu hören, die ab und zu an Deck kamen und Brot von Touristen verzehrten, und am rechten Rand des Schiffes wehte eine türkische Flagge, die unter der brennenden Sonne rot leuchtete. Manchmal wünschte Afet sich, dass dieser Wind sie einfach packte und ganz weit Weg brachte, an einen Ort, wo sie niemals mehr gefunden wird, ein Ort, wo ihre Vergangenheit sie nicht mehr einholen konnte, wo sie endlich frei sein konnte.

Afet atmete tief ein und sah sich nach einem freien Platz um. Schließlich fand sie einen leeren Platz auf einer kleinen Bank neben einem alten Ehepaar, das gemeinsam Baklava teilte und Tee trank. So alte Pärchen zu sehen, die immer noch Zeit zusammen verbrachten, faszinierte Afet tatsächlich mehr, als man sich vorstellen konnte, und ohne es zu merken, fing sie an, zu starren. Die Frau war optisch älter als der Mann, unter ihrem karierten Kopftuch guckten ein paar graue Strähnen hervor und als ihr Mann das größere Stück der Baklava von ihrem Teller klaute, stupste sie ihn an seiner Schulter und lachte.

Der Mann tat so, als wäre er zutiefst verletzt und hielt seine Hand an seine Schulter, bevor auch er anfing, zu lachen und dabei seine Silberzähne zur Schau stellte. Sie sahen glücklich aus. Als Afet sich wieder fing, räusperte sie sich peinlich berührt und strich ihre Haare aus ihrem Gesicht, bevor sie ihr geblümtes Sommerkleid gerade strich und einen Bissen von ihrem frischen Sesamring nahm.

Als der Wind ein wenig zu unerträglich wurde, legte sie ihr Essen zur Seite und wirbelte ihre Haare zu einem Zopf, bevor sie sie mit einer Haarklammer hoch steckte und erleichtert seufzte. Egal wie sehr sie ihre Haare liebte, im Sommer waren sie unerträglich.

Das Schiff fuhr gerade an der "Seidenstraße" entlang, zumindestens nannte Afet sie so, denn sie war nichts außer Anreihung von teuren Hotels und noch teureren Villen, in denen die Oberschicht Istanbuls, teilweise der ganzen Welt, hauste. Eine Villa war größer als die andere, prächtiger, eleganter, hübscher, glanzvoller, pompöser – manchmal hatte sie wirklich das Gefühl, die Menschen hier lebten einzig und alleine in einem Wettkampf mit ihren Nachbarn, was immer für ein Schmunzeln auf ihren Lippen sorgte.

kara sevdam. | afet & azizWhere stories live. Discover now