Istanbul, 2019
Zülal weigerte sich, etwas zu essen.
Afet hatte das Gefühl, ihr fallen innerhalb von wenigen Minuten Sterne auf die Haare, denn egal was sie versuchte, sie schaffte es nicht, ihre Enkeltochter zu brechen, und es versetzte ihr ein tiefes Stechen. Sie kannte dieses Gesicht, diese Blicke, diese Röte.
Sie jagt dir nachts den Schlaf und verwandelt dich in eine trostlose, graue Gestalt, die durch den Alltag wandert, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, kein Tag anders als der andere. Sie sorgt für nasse Bettlaken und fest umklammerte Kissen, die auf den Mund gepresst werden, damit niemand auch nur ansatzweise einen einzigen Ton hört, wobei die rot gefärbten Augen und Wangen ein lauter Schrei nach Hilfe waren – so laut, dass selbst der taube Sultan davon hörte. Eine einzige Leere, sobald das Schicksal seine Spielchen spielt und Wege trennt.
Afet verstand sofort, was los war.
Zülal war verliebt.
Und von genau dieser Person wurde sie betrogen.
Sie setzte sich schweigend zu ihrer Enkelin, die mit einer Tasse Tee auf kleinen Balkon saß, der an dem Wohnzimmer im oberen Stockwerk grenzte. Zülal hatte sich eine Decke über die Schultern geworfen, immerhin war es mitten in der Nacht und Istanbuls Wind wehte durch die engen Straßen und Gassen.
Wenn es eins gab, was Afet in all ihren Jahren in dieser Stadt gelernt hatte, war, dass man sehr vorsichtig mit dem Wind hier sein musste, denn wenn man einmal von ihm gefangen genommen wurde, dann gab es kein heiles Ende mehr in Sicht. Der Wind trieb dich an deine Grenzen, in die engsten Gassen, zu deinen dunkelsten Abenden, und es schien so, als würde es niemals besser werden.
Afet schauderte und zog ihre dünne Strickjacke etwas mehr an sich, bevor sie die Arme vor der Brust verkreuzte und hoch zum Himmel sah. Die Sterne waren überraschend klar, vielleicht würde das Zülal ein wenig aufmuntern, hoffte sie. Vom Ende der Straße war Ahmet Usta zu hören, der erst jetzt seinen Gemüseladen schloss und sich lautstark mit dem Metzger unterhielt, der nur wenige Läden weiter seine Geschäfte machte – dort kaufte Afet auch immer ihr Fleisch ein, auch wenn das aufgrund steigender Preise immer seltener wurde.
In der Ferne konnte man das Gelächter von jungen Menschen hören, die sich so langsam auf den Weg machten, die Nacht zu genießen und Istanbul fing allmählich an, in allen Farben zu leuchten, die sich ein Mensch vorstellen konnte. Es raubte einem fast schon das Augenlicht.
Afet seufzte erneut und schloss die Augen, als ihr eine frischer Sommerwind durch die Haare fuhr, bevor sie sich zu ihrer Enkelin drehte, die in Gedanken vertieft in die Ferne starrte und dabei mit dem Daumen unbewusst über den Rand der Tasse fuhr.
"Du liebst ihn immer noch", sagte Afet plötzlich, und war für einen Moment schockiert über sich selbst, dass ihr etwas so schnell herausrutschen konnte, denn eigentlich überlegte sie mehrmals, bevor sie etwas sagte, doch als sie sah, dass sie dadurch wenigstens eine Reaktion von Zülal bekam, auch wenn es nur das wilde Flattern ihrer Augenlider war, räusperte sie sich und entschied sich dazu, weiterzureden.
"Du weißt, was unsere Vorfahren immer gesagt haben? . Solange du nicht erzählst, was dich bedrückt, was dir Kummer bereitet, dann kann dir auch niemand helfen, meine Liebe. Los alles raus, damit endlich das Gift in dir herausfließt."
Zülal sah weiterhin geradeaus und nahm ab und zu einen Schluck von ihrem Tee, doch machte keine Anstalt, etwas zu sagen. Vielleicht wollte sie es sogar, aber womöglich fehlten ihr die Worte oder sie hatte Angst vor dem, was passierte, sobald sie den Mund aufmachte. Wer weiß, ob ihre Stimme überhaupt dafür reichte, diese Worte auszusprechen, die für einen einzigen Kloß in ihrem Hals sorgten und ihr die Luft abschnürte.

YOU ARE READING
kara sevdam. | afet & aziz
Romance| Für meine Mutter, Ç. | "I was never a mischievous person, even when they burned my soul." Afet Öztoprak, geboren 1947, in den erbarmungslosen Bergen Antakyas, war nichts außer ein einfaches Mädchen mit großen Träumen. Von Hand zu Hand gereicht...