Kapitel 29

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[Überleben]

~Und die Konsequenzen, die Leben mit sich bringt~

Überleben ist nie schön.
Es ist nicht heroisch, wie sie es in Märchen oder Filmen erzählt wird.
Es ist schmutzig.
Es sind Tränen, die über dein Gesicht fließen und schluchzen, in einer dunklen Ecke.
Es ist Blut an deiner Hand und in deinem Gesicht.
Es ist Angst und Taubheit zugleich.
Man protzt nicht mit dem Titel als Überlebender.
Du wiegst dich in den Schlaf mit fernen Geschichten aus einem Leben, in dem du nie gezwungen worden wärst, überhaupt zu kämpfen.
Überleben ist nie schön.
Es ist jeden Tag etwas mehr sterben.
Es ist jeden Tag etwas mehr zerbrechen.

Man würde denken, irgendwann wäre ein Mensch nicht mehr in der Lage weiter zu brechen und zu bröckeln, doch es scheint kein Ende der Zerstörung zu geben. Kein Halten.

Casmiel Tripe war wohl der lebende Beweis dafür, dass ein Mensch sehr oft zerbrechen konnte. Schließlich bestand er nur mehr aus Asche und Staub. Überresten, seiner einstigen Schönheit. Seiner einstigen Perfektion. Und doch lebte er weiter.

Manchmal wünschte er sich, er könnte einfach aufgeben. Einfach sterben. Doch das konnte er nicht zulassen. Nicht nach alldem, was er erlebt hatte. Nicht nach alldem, was er überlebt hatte.

Er öffnete sein Auge und richtete sich langsam auf. Sein gesamter Körper schmerzte, sein Gesicht brannte als würde er langsam zu Asche zerfallen. Er fühlte jeden einzelnen Schnitt, von denen er wusste, dass sie seine Gestalt für immer verunstalten würden. Er würde nie wieder dieselbe Aura haben, dieselbe Wirkung. Er würde nie wieder dieselbe Schönheit tragen, dieselbe Attraktion hervorrufen. Charon hatte ihm das genommen, von dem er gedacht hatte, dass er es niemals verlieren könnte. Seine Schönheit.

Er fühlte die Wunde an seinem Bauch, die Icarus dort hinterlassen hatte. Die er so lange betäubt hatte, bis er sie sogar vergaß. Die er nun wieder bemerkte.

Seine Sicht war noch verschwommen und er wischte das Blut aus seinem Auge, dass nicht von Schmerzen zugehalten wurde.

Doch er erkannte die Umrisse des Raumes, in dem er sich befand. Charons Büro. Aber dieses Mal war er alleine. Vollkommen alleine.

Langsam begann er wieder zu funktionieren. Sein altes Wissen grub sich seinen Weg an die Oberfläche. Seine alten Überlebensinstinkte, die er tatsächlich verloren hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Charon nicht nur mit Worten reagieren würde. Ein Fehler. Früher hätte er dies erwarten können. Doch nun? Nun war er nicht mehr für den Krieg geschaffen.

Doch Wissen starb nicht einfach. Es ruhte, bis es gebraucht wurde und aktivierte sich dann wieder. Deshalb riss er ein Stück seines Hemdes herunter und band es um sein verletztes Auge. Es half nicht viel, doch wenigstens würde er dann nicht mehr dieses starke Bedürfnis haben, es zu öffnen. Die Angst, dass er möglicherweise nie wieder durch dieses Auge sehen konnte, ignorierte er einfach. Er konnte sich jetzt keine Angst erlauben.

Die anderen Wunden waren nicht so wichtig. Er würde sich später darum kümmern müssen. Das war in Ordnung. Cas atmete einmal tief durch und aktivierte seine Fähigkeit. Der Schmerz klang ab, seine Instinkte verstärkten sich. Er wurde aufmerksamer, vorsichtiger. Das Adrenalin floss durch seine Venen und gab ihm neue Kraft, die er nutzte, um aufzustehen und sich zu überlegen, was er tun sollte.

Seine Hände waren blutverschmiert. Sein einst weißes Hemd trug kaum mehr einen Fleck der reinen Farbe. Seine Bauchwunde war wieder aufgegangen und ließ noch mehr Blut durchsickern.

Was sollte er tun?

Er wusste es genau.

Charon hatte einen großen Fehler gemacht. Er hatte ihm eine neue Motivation gegeben, ihn von seinem Thron zu stürzen. Er hatte ihm ebenso den Durchgang frei gemacht, um Theseus zu retten. Denn er würde ganz bestimmt nicht ohne ihn gehen.

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