Kapitel 30

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[Aspens Brief-Trauma bekommt eine Berechtigung]

~Merde, c'est reparti pour un tour~

Gegen das Böse zu sein, machte einen Menschen noch lange nicht gut.
Gegen das Gute zu sein, machte einen Menschen noch lange nicht Böse.

Das Konstrukt von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, ist eine absolute Denkweise. Grau gibt es nicht. Nicht, wenn es in eine der beiden Seiten verschwimmt.

Man tötet um zu überleben? Schwarz.
Man stirbt um nicht zu töten? Weiß.
Man geht Gefahren aus dem Weg, um sich sein eigenes Überleben zu sichern? Schwarz.

Wenn man kein Held war, war man nicht gut. Wenn man nicht gut war, war man sofort schlecht und wenn man schlecht war, war man der Feind.

Diese Denkweise war in die Köpfe der Menschen einbetoniert und konnte nicht wieder behoben worden. Schwarz und Weiß sind nun die Parteien, die man wählen kann. Etwas dazwischen gibt es nicht mehr. Die Welt war nicht mehr bunt, wie sie einst war. Oder vielleicht ist sie nie bunt gewesen. Vielleicht gab es nie etwas zwischen Gut und Böse.
Nur ein Absolut.

Absolute waren der absolute Scheiß. So dachte jedenfalls Aspen.

Sie war schon immer ein Feind von Absoluten gewesen. Nicht ihr Ding. Aspen mochte Freiheit und Absolute waren Grenzen. Sie wollte Grenzen durchbrechen, sie zerstören, zermalmen, destruktiv aus dem Weg räumen, eliminieren, annihilieren, auslöschen, devastieren, vernichten, verwüsten, zertrümmern, demolieren, abreißen, verwüsten, zu Staub zerbröseln und was es sonst noch für Synonyme für Zerstörung gab, da ihr jetzt keine mehr einfielen. Jedenfalls hegte sie keine guten Gedanken gegenüber Grenzen und Absoluten.

Deshalb mochte sie vermutlich die Tripe-Familie nicht.
Eine Familie aus Absoluten.

Absolute Perfektion. Absolute Zerstörung. Absolut. Absolut. Absolut.

Sie konnte das Wort nicht mehr hören. Sie konnte das Wort „Perfektion" nicht mehr hören, doch es war schon längst in ihren Gedanken festgenagelt. Sie konnte keinen Schritt mehr machen, keine Tat mehr vollbringen, ohne daran zu denken, dass alles perfekt sein musste. Das sie perfekt sein musste.

Jedes Lächeln wurde zu einer Waffe, jeder Schritt, als wäre es ihr letzter. Jede Bewegung löste Gedanken aus, die sie verbesserten, umpositionierten und ihre Fehler bereuen ließ. Jede Bewegung benötigte mehr Perfektion.

Aspen war kein Idiot. Kein vollkommener Idiot jedenfalls.
Sie wusste, dass dies Charons Taten waren. Seine Worte, die Aspens Gedanken automatisch wie eine Mantra wiederholten. Seine Zitate und Lehren. Seine Lektionen und jedes noch so kleine Zucken seiner Lippen.

Sein Stolz war süß wie Nektar, Enttäuschung so bitter wie Verrat.

Als Außenstehender konnte man den perfektionierten Zerfall nicht verstehen. Man konnte die Tripes nicht verstehen. Keinen einzigen von ihnen.

Aspen hatte Casmiel schwach genannt, da er zu Charon zurückgerannt war, nachdem er es ihm nur befohlen hatte, doch jetzt konnte sie ihn besser verstehen als zuvor. Sie verstand, was es mit der Schuld auf sich hatte, mit den Gefühlen, die eine Nicht-Erfüllung dieser Schuld mit sich brachte.

Aspen machte den perfektionierten Zerfall erst seit beinahe zwei Jahren durch, doch es reichte schon, um sie verstehen zu lassen, wie sich ein Hund fühlte, der allein beim Ruf seines Namens hergelaufen kam.

Macht war ein gefährliches Suchtmittel. Aspen hatte gedacht, sie hätte bereits viel Macht besessen. Als Assassine und Tochter einer reichen Familie war Macht etwas alltägliches gewesen. Etwas normales.

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