19- Nicht der Hauch...

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19- Nicht der Hauch...

"Sie kommen! Sie kommen!", rief Bruder Jechlin. Er stürzte die schmale Treppe vom Kirchturm herunter, stolperte, konnte sich aber wieder fangen. "Sie kommen!", wiederholte er. "Endres, geh nach oben und schau, ob ich Recht habe", befahl er. Endres nickte und eilte die Treppe hinauf. Bruder Siman rannte unterdessen durch das Kloster, um die anderen zu warnen.

Seine "Sie kommen!"-Rufe schallten umher. Bald riefen sich auch die anderen die Nachricht zu. Endres stand oben im Kirchturm und sah sich um. Er war noch nie hier oben gewesen und einen Moment lang staunte er über die atemberaubende Aussicht. Doch dann fiel sein Blick auf die Rauchzeichen, die in den Himmel stiegen. Bruder Paulus war heute im Dorf und hielt Wache. Hoffentlich entdecken sie ihn nicht, betete Endres.

Ihm war, als könnte er die mordlustigen Rufe und das Hufklappern hören, auch wenn sie noch ganz in der Ferne waren. Unten im Kloster rannten sie aufgeregt umher. Er konnte Hennlin und Pett erkennen, die sich die Waffen holten und sich zusammen mit den anderen in der Apotheke und der Herberge versteckten. Sie gehörten zu der Gruppe, die aus dem Hinterhalt angreifen sollte. Endres erstarrte. Er selbst hatte keine Aufgabe bekommen.

Er sollte weder bei der einen Gruppe im Hauptgebäude warten, noch mit zu den anderen gehen. Was sollte er nur tun? Er hörte Schritte auf der Treppe. "Endres?", fragte eine ängstliche Stimme. Agnes war ihm hinterher geschlichen. "Ich habe Angst", sagte sie und umklammerte Endres' Hüften. Endres strich ihr über den Kopf. Agnes war zwar nur zwei Jahre jünger als er, aber klein, schmal und schwach. Er würde sie beschützen, sagte er zu sich selbst.

"Es ist gut, dass du Angst hast", erklärte Endres. "Warum ist es gut, dass ich Angst habe? Angst ist doch etwas Schreckliches!", erwiderte sie. "Aber wenn du Angst hast, hast du auch Mut", sagte Endres. "Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Wenn du Angst hast, musst du Mut haben, damit du deine Angst besiegen kannst. Wer keine Angst hat, war noch nie mutig." "Wenn ich Angst habe, bin ich nur auf eine andere Art mutig?", fragte Agnes.

Endres nickte. Die Rauchwolken waren verschwunden, es stieg kein weiterer Rauch mehr auf. Das Feuer war erloschen. Hoffentlich hatten die Raubritter Bruder Paulus nicht entdeckt. Der Tross hatte den Weg zum Kloster eingeschlagen. Die ersten Raubritter kamen auf ihren Pferden aus dem Wald heraus geritten. In der einen Hand die Zügel, in der anderen das in die Luft gestreckte Schwert. Es blitzte in der Sonne auf und Endres kam sofort wieder der Tag ins Gedächtnis, als die Raubritter das Dorf überfielen.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, sagte er zu sich. Denk' an Agnes! Immer mehr Raubritter kamen aus dem Wald geritten. Das Hufgetrappel schien unendlich laut. Einige hatten Fackeln und steckten damit die Pfeile an. Sie ritten freihändig, spannten den Bogen und nur wenige Sekunden später erreichten die ersten Pfeile das Kloster. Sie landeten im Schuppen, wo die Mönche Geräte für die Gartenarbeit aufbewahrten.

Die kleine Holzhütte ging sofort in Flammen auf. Es folgten mehr Pfeile, einige prallten an den Steinwänden der Gebäude auf, fielen in den Staub und erloschen. Jetzt erreichte der erste das Tor. Das Pferd war riesig und der Raubritter in der glänzenden Rüstung musste auch ein Riese sein. Einige der Raubritter folgten ihm ins Kloster, andere ritten jedoch am Tor vorbei. "Sie umstellen das Kloster!", jammerte Agnes, die sich ängstlich umschaute.

Damit hatten sie nicht gerechnet. Keine Sekunde lang hatte jemand daran gedacht, dass das Kloster umstellt werden konnte. Sie waren davon ausgegangen, dass sich die Raubritter frontal ins Getümmel stürzen würden. So dumm wie sie zu sein schienen, waren sie anscheinend doch nicht. Aus dem Hauptgebäude trat auf einmal Bruder Caspar, gefolgt von den anderen. Endres konnte Bruder Vallentin und Camilla unter ihnen ausmachen.

Im Reich der Wölfe - Neumond (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt