21- Neumond
Endres wurde freundlich von den anderen Wölfen empfangen. Einige von ihnen hatten Verletzungen, aber nichts, wogegen Duretta keine Kräuter gehabt hätte. Die Wölfe versammelten sich vor Jylges Höhle. „Wir haben schwere Zeiten hinter uns", sagte der Leitwolf. „Vor einigen Monden erhielt ich ein Zeichen vom Rudel der Sterne. Ich wusste nicht, was es zu bedeutet hatte, aber jetzt bin ich mir sicher, dass Endres mit diesem Zeichen gemeint war. Dieser Wolf hat viel für das Rudel getan. Ohne ihn wären meine Welpen und Gawin nicht mehr am Leben.
Er wird demnächst mit Jonata und Alba die Große Reise antreten, um als vollwertiges Mitglied in das Rudel aufgenommen zu werden. Ich weiß, dass einige unter euch ihm nicht trauen", er sah Marthes und Merklin an, „aber ich denke, dass spätestens nach dem heutigen Tag niemand mehr an Endres' Loyalität zum Rudel zweifeln wird. Wir haben heute Seite an Seite mit den Menschen vom Menschenort gegen eine große Gefahr gekämpft. So etwas ist noch nie vorgekommen, aber hätte Endres uns nicht geholt, wäre der Menschenort vernichtet worden und es hätte nicht lange gedauert, dann wäre auch unser Schicksal besiegelt gewesen. Ich danke dem Rudel der Sterne, dass kein Wolf ernsthaft verletzt wurde. Wir haben uns tapfer geschlagen und hoffentlich werden wir nie wieder so etwas tun müssen. Diese Nacht des Neumondes soll ein Zeichen für einen Neuanfang sein. Wir sollten nach vorne blicken, denn in wenigen Monden kommt der Winter, dafür müssen wir gewappnet sein. Lasst uns nun zum Großen Geheul anstimmen."
Die Wölfe legten den Kopf in den Nacken und heulten zum Rudel der Sterne. Endres kam es so vor, als würden die Sterne heller strahlen als sonst. Ihn überkam ein Gefühl von Freude und Gemeinschaft. Er war ein Teil dieses Rudels und er würde dafür sorgen, dass Jylge stolz auf ihn sein konnte.
***
Nach dem Großen Geheul verstreuten sich die Wölfe, um sich zu erholen. „Weiß du, wo Jonata ist?", fragte Endres Alba. „Sie ist in Durettas Höhle", antwortete Alba. „Ich glaube, ihr habt etwas zu klären." Endres nickte. Duretta hatte sich nach dem Großen Geheul an den Eingang ihrer Höhle gelegt und sah zu den Sternen empor. „Duretta?", sprach Endres die Heilerwölfin an. „Könnt ich für einen Moment allein mit Jonata sprechen?"
„Nur zu, mein Freund", die Wölfin erhob sich. „Ich werde euch nicht stören." Sie trotte davon. Durettas Höhle lag im Dunkeln. Endres konnte Jonatas Umrisse erkennen. Die Wölfin hatte sich auf ihrem Nest zusammen gerollt. „Ich bin es", sagte Endres unsicher. „Geh weg", blaffte ihn Jonata an. Sie lag mit dem Rücken zu Endres und sah ihn nicht an. „Du bist doch jetzt der große Held. Also, was gibst du dich dann noch mit mir ab? Hast du nicht was Besseres zutun? Deine nächste Heldentat planen, um wieder..."
„Jetzt sei doch mal still", flehte Endres. Jonata verstummte, sah ihn aber immer noch nicht an. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen", sagte er und sah auf den Boden. „Es tut mir leid, dass ich so schroff zu dir war. Es war nur... es war einfach alles zu viel. Ich möchte nicht der große Held sein oder ein Wolf, der vom Rudel der Sterne geschickt wurde. Alles was ich möchte... ist ein normaler Wolf zu sein. Aber ich bin einfach zu ungeschickt dafür und stolpere immer von einem Erlebnis ins andere. Dass sich alles jetzt so ergeben hat, dafür kann ich nichts. Es ist einfach passiert. Eure Welt ist mir noch neu und ich finde mich noch nicht darin zu Recht. Ich denke manchmal ein bisschen anders und dass ihr nicht gleich damit einverstanden seid, was ich denke, ist mir klar. Ich bin alles andere als ein großer Held, der ich in deinen Augen bin. Kannst du mir verzeihen? Ich möchte nicht, dass du so über mich denkst. Ich mag dich und ich könnte es nicht ertragen, wenn du mir wegen so etwas aus dem Weg gehst. Wenn das jetzt alles dazu geführt hast, dass du mich hasst, dann war es das alles nicht Wert..."
Die beiden Wölfe schwiegen. Als Endres endlich wieder aufsah, war Jonata aufgestanden und blickte ihm jetzt in die Augen. „Das soll es nicht", erwiderte sie. Verlegen blickte sie sich um. „Ich mag dich auch. Es wäre schrecklich, wenn wir uns aus dem Weg gehen würden." „Dann müssten wir alle Abenteuer, die uns noch bevorstehen, getrennt erleben", überlegte Endres. „Keine schöne Vorstellung." „Da hast du Recht", stimmte ihm Jonata zu.
***
Das Kloster kam Endres seltsam verlassen vor. Vor zwei Tagen waren Camilla, Hennlin, Pett und die anderen Dorfbewohner zurück gegangen. Sie hatten ihre Sachen gepackt und das Kloster verlassen. Jetzt würden sie das Dorf wieder aufbauen. Endres saß gedankenverloren auf seinem Bett in seiner Kammer. Seit Tagen war er nicht mehr hier gewesen.
Die Nacht hatte er immer bei den Wölfen verbracht und tagsüber hatte es so viel zutun gegeben, dass für Ausruhen einfach keine Zeit war. Die Langeweile war ungewohnt. Gleich am Tag nach dem Angriff hatten alle mit den Aufräumarbeiten begonnen. Auch wenn viele wegen ihrer Verletzungen vorläufig nur einen Arm oder nur ein Bein belasten konnten, hatten alle mit angepackt. Bis auf den abgebrannten Schuppen waren keine größeren Schäden entstanden.
Nur ein paar lockere Dachziegel oder zerschlagene Fenster. Mittlerweile waren alle Spuren des Angriffs beseitigt. Inzwischen gingen die Mönche wieder ihren Arbeiten nach. Endres hatte die Habseligkeiten, die er aus dem Haus geholt hatte, in ein Regal in seiner Kammer gelegt. Wie würde es nun weiter gehen? Helena war noch im Kloster geblieben. Bruder Paulus und sie hatten gleich am ersten Tag angefangen, ihre Kräuterkenntnisse auszutauschen. Seitdem waren sie entweder zusammen in der Apotheke oder im Kräutergarten. Sie schienen sich gut zu verstehen.
„Endres?", Helena betrat die Kammer. „Können wir mal kurz miteinander reden?" „Warum nicht?", erwiderte Endres. Helena setzte sich neben ihn. „Ich habe lange überlegt", begann sie, „und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht auf Dauer hier bleiben kann. Die Mönche sind sehr nett, aber das Leben ist mir hier einfach zu eintönig."
„Du willst ins Dorf zurück, oder?", fragte Endres. „Das weiß ich ja eben nicht. Ob ich ins Dorf zurück gehe oder nicht. Ich würde so oder so noch einmal von vorne anfangen. Als ich auf der Suche nach euch war, ist mir so viel Elend begegnet. Es gibt noch so viele Menschen da draußen in der Welt, die Hilfe brauchen. Die Raubritter haben in der Gegend sämtliche Dörfer zerstört und die Menschen sind mehr denn je aufeinander angewiesen. Ich möchte diesen Menschen gerne helfen."
Sie seufzte. „Mein Plan war, von Dorf zu Dorf zu ziehen und die Menschen zu versorgen, die krank oder schwach sind. Da kann ich mein Wissen über Heilkräuter gebrauchen. Bruder Auberlin hat mir angeboten, dass ich zwei Pferde haben kann. Die Raubritter haben schließlich mehr als genug hier zurück gelassen. Mit Bruder Paulus habe ich ebenfalls gesprochen. Sollte es einen schlimmen Fall von Verletzungen geben, kann ich diese Person mit den Pferden und der Kutsche hier ins Kloster bringen. Dann kann sich Bruder Paulus um ihn oder um sie kümmern. So können wir helfen, die Welt ein bisschen besser zu machen. Natürlich werden neue Katastrophen kommen, aber irgendwo müssen wir ja anfangen."
Sie holte Luft. „Lorentz möchte gerne mitkommen. Und jetzt frage ich dich, Endres, ob du mich auch begleiten möchtest. Wir könnten wieder zusammen sein, so wie früher. Lorentz, du und ich." Endres sah aus dem Fenster. In Gedanken streifte er mit Geras, Jonata und Alba durch den Wald, im nächsten Moment half er Bruder Paulus in der Apotheke. Konnte er das einfach zurück lassen? Nein, sagte er zu sich selbst. Er hatte sich jetzt in dieser Welt eingelebt. Wie Jylge gesagt hatte. Der Neumond war ein Zeichen des Neuanfangs.
„Ich werde nicht mitkommen", antwortete er auf Helenas Frage. „Ich hoffe, das ist in Ordnung." „Wenn du damit glücklich bist, dann ist das in Ordnung", stimmte ihm Helena zu. „Aber ihr kommt uns doch besuchen, oder?", hakte Endres nach. „Natürlich kommen wir euch besuchen", antwortete sie. „Auch wenn wir ab jetzt neue Wege gehen, dann bist du immer noch mein Sohn und ich immer noch deine Mutter. Wir werden uns nicht noch einmal aus den Augen verlieren, versprochen."
Sie wuschelte Endres durch das Haar und stand auf. „Wir bleiben noch bis übermorgen, dann ziehen wir los", sagte sie und verließ die Kammer. Endres saß immer noch auf dem Bett und dachte nach. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Wenn dieser Neuanfang darin bestand, dass er hier bleiben würde, dann sollte es so sein!
ENDE ERSTER TEIL
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Im Reich der Wölfe - Neumond (Band 1)
Fantasia"Aber wenn du Angst hast, hast du auch Mut. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Wenn du Angst hast, musst du Mut haben, damit du deine Angst besiegen kannst. Wer keine Angst hat, war noch nie mutig." Die Raubritter haben Endres' Welt zer...