Kapitel 5 - Am Rand der Stille

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Ich habe gesehen, wie er mich angeschaut hat. Mein Vater. Wie seine Stimme gebrochen ist, als er mich angefleht hat, nichts Unüberlegtes zu tun. In seinen Augen lag eine Verzweiflung, die mir das Herz zuschnürte. Er hat schon eine Tochter fast verloren – und er wusste, dass er auch mich verlieren könnte.


Ich wollte ihm gehorchen. Wirklich. Ich wollte stark für ihn sein, vernünftig. Ich habe genickt, habe ihm versprochen, dass ich keinen Schritt mehr allein in diesen Wald setze. Ich habe seine Hand gehalten, als hätte ich damit etwas zurückgeben können von dem, was er gerade verliert.

Aber schon auf dem Weg nach Hause wusste ich, dass ich dieses Versprechen nicht halten werde.

Nicht, weil ich trotzig bin. Nicht, weil ich mutig bin. Sondern weil ich einfach nicht tatenlos zusehen kann, wie Tatia stirbt.

Ich habe gesehen, wie sie heute Nacht kaum noch atmen konnte. Wie ihre Lippen blass wurden. Wie ihre Haut kälter wurde, obwohl ihre Stirn brannte. Und ich weiß, dass es ohne das Gegengift kein Morgen mehr für sie geben wird.

Ich will niemanden enttäuschen. Ich will keine falsche Entscheidung treffen. Aber das hier… das ist kein Dilemma mehr. Es ist eine Grenze.

Und ich habe mich längst entschieden, sie zu überschreiten.

.......

Ich bin nicht hier, um mich in den Tod zu stürzen.

Ich bin nicht dumm. Und ich will auch nicht heldenhaft sein.

Aber ich werde nicht zuhause sitzen und dabei zusehen, wie meine Schwester stirbt.

Ich weiß, dass ich nicht einfach in ein fremdes Territorium eindringen kann. Nicht ohne Einladung. Nicht ohne Konsequenzen. Und ich nehme die Warnung ernst – jede einzelne.

Doch wenn die Pflanze wirklich existiert, dann wächst sie dort. Hinter der Grenze.

Also fahre ich. Nicht blindlings. Sondern dorthin, wo der Wald eine Wand bildet.

Ich erkenne ihn sofort.

Die Bäume stehen hier enger als anderswo. Ihre Stämme dunkel, fast schwarz im Nebel. Kein Wind rührt sich zwischen ihren Ästen, kein Vogel singt.

Die Luft verändert sich, je näher ich komme – kühler, schwerer. Als würde der Wald selbst entscheiden, ob ich willkommen bin.

Ich steige aus.

Vor mir: die Grenze.

Kein Zaun. Keine Schilder. Nur das Wissen. Das Gefühl.
Als ob selbst der Boden weiß, wo der sichere Weg endet und der andere beginnt.

Ich kenne diesen Ort.
Zu gut.

Mit aller Kraft versuche ich, die Gedanken zu vertreiben – an das, was hier geschehen ist. Was ich gesehen habe. Was ich fast geworden wäre.

Meine Panik lauert direkt unter der Haut, bereit, durchzubrechen. Mein Körper kennt den Weg – den in die Angst, in die Erstarrung.

Aber heute ist etwas anders.

Vielleicht, weil ich weiß, warum ich hier bin.
Vielleicht, weil ich es will.

The AlphaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt