Nanouk glitt durch unruhige Träume. In diesen erblickte sie die gruseligen Augenhöhlen eines verwesten Karibus zwischen den hohen, toten Stämmen des winterlichen Waldes, spürte, wie ihr das Leben aus der Brust floss und den Schnee um sie herum rot färbte. Es war Ijiraq, der hinaus ins Mondlicht trat. In seiner wahren Gestalt, wenn kein reines Antlitz als Maske über dem abgenagten, knöchernen Karibuschädel lag.
Ihr Unterbewusstsein drängte sie vorwärts zu gehen, flüsterte ihr zu, dass sie etwas übersah, dass dies nichts weiter als eine Maske war und dass ihr die Zeit durch die Finger rann. Sie musste zurück an den Ort, an dem alles angefangen hatte.
Auf den Grund des Meeres, auf die andere Seite. Die vornübergebeugte Silhouette Ijiraqs verschwamm vor ihren Augen, als sich in der Dunkelheit über ihr feine Risse aus goldenem Sonnenlicht auftaten. Doch anstatt, dass sie durch die kalte Oberfläche des Meeres zurück an die Luft brach, sank sie immer weiter fort von den warmen, lebensrettenden Strahlen.
Nanouk erwachte mit einem erstickten Schrei in der Brust und schlug schweißgebadet die Augen auf.
Ihr erster Gedanke galt der Panik in ihrem Herzen. Sie konnte nie wieder in die dunklen Fluten eintauchen, um keinen Preis der Welt. Und der zweite Gedanke galt den hastigen Schritten vor ihrer Zimmertüre, als Maha kam, um sie für den heutigen Tag vorzubereiten.
Nanouk war völlig neben sich, als Maha ihr rasch beim Ankleiden der seidenen Tunika half und ihr unterbreitete, dass sie heute mit Ischka persönlich lernen würde.
»Nauju war unglaublich gut gelaunt heute morgen«, vermerkte Maha schließlich mit starkem Akzent und lachte verschwörerisch. »Du hast wohl ein Händchen, was ihn anbelangt.«
Nanouk hob die Schultern, nicht sicher, was sie darauf antworten sollte.
»Wenn du mit Ischka fertig bist, müssen wir deinen Verhütungsplan besprechen. Sieh mich nicht so schockiert an, du hast doch bestimmt schon deine Monatsblutungen?«
Nanouk gab keine Antwort darauf und Maha seufzte. »Hör zu, anaana Saghani kann sich keine Schwangerschaften leisten. Zumal Kinder, die hier am Palast geboren werden, automatisch in König Naos Besitz übergehen. Das möchte niemand.«
Nanouk lauschte schweigend, als Maha sie schließlich durch den Wohnbereich führte und sie darüber informierte, dass Nauju ihnen ein spezielles Tonikum anfertigte, mit dem Schwangerschaften verhindert werden konnten. Diejenigen, die nicht auf die Tinktur ansprachen, galten daher auch als besonders begehrenswerte Gesellschaft, da man die Damen bloß zu bestimmten Zeiten kaufen konnte.
Nanouk rauschten die Ohren, wie Maha über diese Dinge sprechen konnte, als wären es gute Neuigkeiten. Doch mittlerweile war sie daran gewohnt vor den Kopf gestoßen zu werden, also folgte sie ihr schweigend, in Gedanken bei dem verrottenden Karibu zwischen den Stämmen und der Tatsache, dass sie ihre Monatsblutung mit Nauju besprechen musste.
Die Sonne hatte es gerade einmal geschafft als diffuses Leuchten über die Wipfel im Osten des Zittergebirges zu steigen, als sie schließlich den Wohnbereich erreichten. Maha hielt an und packte Nanouk sanft an den Schultern. »Ich muss dringend zu einer wichtigen Besprechung. Ataha Siku kommt heute nach Wallheim und ich darf ihn begleiten.«
Nanouk hob den Blick und fand Maha grimmig lächelnd vor. Sie besaß zwar immer noch die Ausstrahlung einer Frühlingsblume, doch da war ein Zug um ihre Mundwinkel und ein Funkeln in ihren grauen Augen, das Nanouk aufhorchen ließ.
»Ataha Siku ist wundervoll, ja?«
Maha nickte. »Natürlich. Und er ist mir beinahe vollkommen verfallen.« Sie lächelte zufrieden und strich sich die blonden Haare hinter die Ohren. »Er ersteht mich regelmäßig und das ist gut so. Inja wird dich zu Ischka bringen und wir sehen uns dann vermutlich morgen.«
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[Dark Romantasy] Der Winterkönig ✓
Fantasy⫷Vergib mir, Freund, für das, was sein wird. Vergelte nicht das, was sein muss und vergiss nicht das, was uns im Bunde hält.⫸ Nanouks Welt ist eine aus Hunger, Kälte und Bitterkeit. Seit der Winterkönig vor zehn Jahren die Macht ergriffen hat, ist n...