die erste idee

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Wenn es einen Wettbewerb im Sterben geben würde, dann würde ich den unangefochtenen ersten Platz halten.

Ich meine nicht Sterben im Sinne von "Herzstillstand", ich meine Sterben im Sinne von Verblassen. Während ich immer blasser und durchsichtiger werde, wird die Welt um mich herum immer klarer, und das absolut absurde und wahnwitzige an der ganzen Sache ist, dass ich nie lange genug leben werde, um jemandem davon zu erzählen.


Wenn es einen Wettbewerb geben würde, wer die meisten Synonyme für "Hoffnungsloser Fall" kennt, dann würde ich ihn auch gewinnen. Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich jeden Scheiß-Wettbewerb, der etwas mit Sterben zu tun hat, gewinnen würde.

Seht ihr? Ich werde sterben, und ich bin nicht einmal in der Lage, den Tod davon abzuhalten, alle meine Gedanken gierig aufzusaugen und verschwinden zu lassen.


Krebs zu haben ist kein Spaß. In so vielen Büchern wird es als etwas schönes dargestellt, als etwas bitter-süß tragisches, und egal, ob sie am Ende doch sterben oder nicht, man liest das Buch und es klingt so wunderschön.

Es ist nicht so. Zum einen ist da der Schmerz. So viel Schmerz. Psychisch und physisch und irgendwie überall. Dazu kommt, dass man sich die ganze Zeit - die ganze Zeit - schlecht fühlt. Als ob allein das Wissen, dass der Krebst in mir wütet, mich von innen vergiftet. Das Gefühl, dass man abstoßend ist, weil der eigene Körper darin versagt, sein eigener Körper zu sein. Ich vermeide alle Blicke in den Spiegel. Ich fasse mich ,nicht mal selbst an. Ich kotze mich an.

Und die Aufenthalte in Krankenhäusern, und immer wieder neue Gesichter. Die ständige Angst auf den Gesichtern der Eltern, und die Hoffnung, die jedes Mal neu entflammt und jedes Mal aufs Neue wieder erlischt.

Wir haben alles versucht. Alles, was die Menschheit an Medizin jemals zustande gebracht hat. Aber die Welt lächelt nicht zurück, wenn man sie anlächelt - das hat sie nie getan - und während meine Eltern und die Ärzte verzweifelt versucht haben, mein Leben zu verlängern, bin ich langsam, langsam aber sicher gestorben.


Der Psychologe sagt, ich habe Depressionen. Er ist nach einer Sitzung mit raus gekommen, ins Wartezimmer, wo meine Eltern gewartet haben - wenn ich darüber nachdenke, ist alles, was sie in letzter Zeit tun, warten - und hat mit blasierter Miene und ernster Stimme verkündet, dass ihre Tochter depressiv ist. Wirklich? Echt? Der Typ kriegt Geld in den Arsch geschoben, wochenlang, und alles, was er herausbekommt, ist "sie hat Depressionen"?

No Shit, Sherlock. Natürlich habe ich Depressionen. Ich hab ja auch Krebs, du Sackgesicht. Deine Aufgabe ist es nicht, mir zu sagen, dass ich Depressionen hab, sondern deine Aufgabe ist es, mich davon zu heilen.

Aber ich schätze, darin hat er genauso versagt wie alle anderen auch.


Ich bin müde. Ich kann nicht mehr. Ich will diesen beschissenen Kampf nicht mehr kämpfen. Ich will ein Ende sehen. Ist das zu viel verlangt? Nur ein Ende. Inzwischen ist es mir egal, ob ich sterbe oder ob ich geheilt werde. Ich will nur, dass es jetzt passiert. Ich will-


"Louise?"


Ich schrecke auf. Eine fremde Stimme, die einen Namen sagt, den ich nicht kenne.

Im Türrahmen steht ein Junge. Zwar liege ich in einem Bett und kann nicht sicher sein, aber bestimmt bin ich einen halben Kopf größer als er, wenn er auch nicht jünger ist als ich. Tatsächlich kommt er mir entfernt bekannt vor. Das Haar, das ungekämmt von seinem Kopf absteht, und die Lederjacke, die ein kleines bisschen zu groß ist und ihm deswegen fast bis über die Hände rutscht.

ZoeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt