der berg

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ES GEHT SO SCHNELL, als hätten wir nur kurz gleichzeitig geblinzelt und wären dann an einem anderen Ort gewesen. Schwärze weicht einem schummrigen Licht. Der Lärm ist fort und weicht einer bedrückenden Stille. Die Luft ist erfüllt von fauligem Gestank.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Zoey sich kurz die Hand vor den Mund hält.

Du wolltest doch unbedingt die Ideen sehen, Zoey.

Wir stehen wirklich in einer Art Müllhalde. Vor uns erhebt sich der endlos lange Zaun, der ihn eingrenzt. Es ist eine Art Stacheldrahtzaun, etwas verbogen und eingerostet, aber er erfüllt meistens seinen Zweck.

Wozu er da ist? Man glaubt gar nicht, was für Monstrositäten aus menschlichem Ideenabfall entfliehen können. Ihr wollt es gar nicht wissen, vertraut mir.

Zoeys Blick schweift andächtig von dem Zaun zu den Bergen und Bergen von Müll, der sich hier ansammelt: die obersten Schichten sind aus diesem Zeitalter, je weiter man nach unten kommt, desto tiefer in die Menschheitsgeschichte gräbt man sich – die Ideenberge sind wie ein archäologischer Vulkan. Verschiedene Schichten sagen verschiedene Dinge über die Ideen und Ziele der Menschen zu verschiedenen Zeitaltern.

„Sind das alles...?"

„Ideen? Ja." Ich nicke.

Teller, Kleidungsstücke, Bilderrahmen, Autoteile und Manuskripte... Gegenstände jeglicher Art lassen sich hier finden. Kuscheltiere und Gehstöcke, Drogen und Handfeuerwaffen, Hochzeitskleider, Messer, vertrocknete Blumen, Lexika, zerbrochene Brillen, Babyschuhe, Perücken, Freundschaftsbänder, vergilbte Fotografien... Einmal habe ich aufgeräumt und bin über einen Schrumpfkopf gestolpert; einmal klebte ein Kondom an meinem Handgelenk. Es gibt wirklich nichts, nichts, was man nicht hier finden könnte. Und jeder Gegenstand erzählt seine eigene Geschichte. Jeder Gegenstand stellt eine Idee dar, einen Einfall, der nie erfüllt wurde...das nicht ausgelebte Potential eines Menschen. Egal, ob er mit acht Jahren starb oder mit achtzig, es ging nur um die Idee, die Macht, seine Umwelt zu verändern, die nie ausgenutzt wurde.

Zoey geht ein paar Schritte auf den Zaun zu, nur einen Meter davon entfernt bleibt sie stehen und schaut etwas an, das auf dem Boden liegen zu scheint.

Dann bückt sie sich danach.

Eilig trete ich zu ihr. „Du solltest nicht-"

Es ist eine kleine Stoffpuppe. Ein breites, herzerwärmendes Lächeln ist ihr von einem Ohr zum anderen gestickt worden. Ihre Wangen sind rosa angemalt, und ihre roten Stoffhaare zu zwei Zöpfen geflochten. Sie strahlt Unschuld und Liebe aus.

Doch schon stößt Zoey einen spitzen Schrei aus und die Puppe gleitet aus ihren Fingern.

Als sie auf dem Boden aufschlägt, sieht man auch, wovor ich sie hatte warnen wollen: An einer Stelle breitet sich ein tiefschwarzer Fleck aus, so schwarz, dass es in den Augen wehtut, ihn anzusehen. Aber nicht seine Farbe allein ist es, was Zoey so erschreckt hat. Der Fleck scheint auf eine hässliche Art und Weise zu leben, er pulsiert und atmet, er verströmt einen fauligen Geruch, er scheint einen anzustarren.

Kaum dass die Puppe liegt, wird der Fleck größer. Ein kahler schwarzer Kopf scheint aus ihrem Inneren hervorzukriechen, als hätte dort eine Art ekliges Insekt genistet, eine Larve, die nur darauf gewartet hatte, zu schlüpfen.

In der Tat kann man es auch so bezeichnen: die Albträume, die unvermeidlich aus dem Ideenberg schlüpfen, sind wie Parasiten; sie nisten sich an unerwarteten Stellen ein, und unsichtbar wachsen sie in einer alten Idee heran, und wenn sie alt genug sind, schlüpfen sie und überraschen einen von hinten, eiskalt. Kleine Arschlöcher sind das.

ZoeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt