Namenloses Mädchen
Ich erwache an einem heißen Ort. An einem sehr heißen Ort. Die Luft ist träge und ich habe sofort Probleme, genug davon einatmen zu können.
Ich öffne die Augen. Zuerst erkenne ich kaum etwas, aber dann fällt mir die unebenmäßige Decke auf. Als wäre dieser Raum in einen Felsen geschlagen worden. Dunkles, rötliches Licht sorgt dafür, dass diese Höhle noch heißer erscheint, als sie ohnehin schon ist. Ein Stöhnen lenkt meine Aufmerksamkeit nach rechts. Mit großen Augen betrachte ich die zahlreichen, nackten Körper um mich herum, die entweder bewusstlos auf dem Boden liegen oder bereits erwacht sind und genauso verstört aussehen wie ich.
Eine Hand greift nach meinem Bein. Ich zucke zusammen und springe zur Seite. „Wer seid ihr?"
Es war ein alter Mann, der versucht hat, sich an meinem Bein in die Höhe zu ziehen. Aber er ist nicht der Einzige, der nach mir greift. Von allen Seiten tauchen Hände auf, als wollen sie mich in tausend Stücke reißen.
„Haut ab!", rufe ich. Ein paar von ihnen schaffen es ebenfalls in den Stand und werden nun von anderen gepackt, die es ihnen nachtun wollen.
„Was ist das hier?", will ein junger Mann wissen, der nur zwei Meter von mir entfernt steht und sich umsieht. Die suchenden Hände tritt er mit seinen bloßen Sohlen weg.
Ich senke den Blick auf meine eigenen Füße, die genauso blank sind wie seine. Auch ich bin nackt. Von Kopf bis Fuß.
Plötzlich überkommt mich eine Welle Scham, obwohl es in Anbetracht der Umstände mehr als lächerlich ist. Keiner trägt Kleidung.
In dieser gigantischen Höhle, deren Ausmaße sich in dunklen Schatten verlaufen, befinden sich Hunderte von Menschen. Junge und Alte – alle so nackt, wie Mutter Natur sie beim Tag ihrer Geburt schuf.
Mein Magen dreht sich um, ich lasse den Blick über die Körper streifen. Warum bin ich hier? Und was für ein Ort ist das überhaupt?
Eine Frau mittleren Alters steht neben mir auf, wackelig, aber nach ein paar Augenblicken wird ihr Stand sicherer. Das rötliche Licht, das aus dem Boden und der Decke zu kommen scheint, spiegelt sich in ihren Augen wider.
Sie fährt sich rastlos mit der Hand übers Gesicht. „Wer bist du?" Sie sieht mich an und runzelt die Stirn, als versucht sie sich an etwas zu erinnern.
„Ich bin ..." Ich überlege. Wer bin ich? Ich öffne den Mund, um es ihr zu sagen, aber mein eigener Name entgleitet mir. „Ich ... ich weiß es nicht."
Die Frau presst die Lippen aufeinander. „Ich weiß auch nicht, wer ich bin. Was ist das hier? Und wie sind wir hier gelandet?"
Allmählich stehen alle Menschen. Sie reden durcheinander und erinnern sich genauso wenig an etwas wie ich.
„Es ist eine Höhle", sage ich.
„Es ist die Unterwelt", ertönt eine dunkle Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen und drehe mich um.
Eine Frau mit leuchtend roten Haaren schwebt über dem Boden, die Menschen werfen sich ihr zu Füßen und betteln um Hilfe. Es fühlt sich beinahe wie ein Urinstinkt an. Je näher sie kommt, desto stärker wird der Drang, sich vor ihr niederzuwerfen.
Ich halte stand und beobachte sie. Zahlreiche Fragen schwirren mir durch den Kopf.
Die Frau mit den feurigen Haaren lächelt mich an. Bei jeder Bewegung springen kleine Funken von ihr ab und rieseln auf die nackten Menschen zu ihren Füßen nieder.
„Was bist du?" Ich starre diese unwirkliche Erscheinung an. Ich durchforste meine Erinnerungen nach solchen Wesen, aber alles ist leer. Vielleicht habe ich sie auch vergessen. So vergessen wie meinen Namen.
Die Frau wirft mit einer Handbewegung ihre Haare zurück und fixiert mich mit Augen, deren Inneres zu Glühen scheint.
„Ich bin Ada." Sie breitet die Arme aus. „Und das hier ist die Unterwelt. Das Reich der Toten." Sie zwinkert mir zu. „Herzlich willkommen, wissbegieriges Mädchen."
„Das heißt also ... ich bin tot?", frage ich leise. Sehnsucht breitet sich in mir aus. Tief in mir gibt es Erinnerungen an ein Leben, das ich geführt habe. Aber all diese Gedanken und Gefühle befinden sich außerhalb meiner Reichweite.
Die Frau betrachtet mich eingehend. „Es ist besser ohne Erinnerungen. Euer Leben ist vorbei, ihr würdet euch nur unnötig quälen", sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Das hier ist euer neues Leben."
„Warum sind wir alle nackt und du nicht?"
Sie lacht. „Bei der Geburt ist jeder nackt, Schätzchen."
„Geburt? Wohl eher Tod."
Sie schwebt näher. So nah, dass ihre Nasenspitze beinahe meine berührt und ich das Glühen in ihren Augen besser erkennen kann. Es bewegt sich ständig, als lebt tatsächlich Feuer in ihnen.
„Ich mag dich. Vielleicht wirst du eine meiner eigenen Dienerinnen", sagt sie und hebt ihre Augenbrauen. Dann berührt sie meine Haare. „Schönes, goldenes Haar hast du auch noch. Mein Mann liebt das. Nicht so sehr wie rot, aber es ist ihm das Zweitliebste."
„Dein Mann?", frage ich und bekomme ein ungutes Gefühl.
Sie nickt, doch dann zuckt ihr Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen ist. „Er ist da." Sie dreht sich wieder zurück und streicht mir ein letztes Mal über die Haare. „Nicht mein Mann. Der Magier ist gerade gekommen, um seine neuen Sklaven abzuholen", sagt sie und verpufft dann in roten Funken.
„Was war denn das?", will die Frau von vorhin wissen und stößt einen Mann von sich weg, der sich auf ihr abstützt. „Hände weg!"
Ich beobachte, wie der Mann zu Boden fällt und die Finger in die glühende Erde gräbt, ohne sich zu verbrennen. Er kniet auf dem Staub und starrt nach unten, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. Dann hebt er den Kopf und sieht in meine Richtung.
Ich schnappe nach Atem und mache automatisch einen Schritt rückwärts. Weg von ihm und seinen weißen Augen. Er ist blind. Darum hat er die Frau angefasst – er wollte sich an ihr festhalten, weil er sich hier nicht auskennt.
Etwas regt sich in mir.
„Er ist blind", sage ich zu der Frau, aber sie hat uns längst vergessen und drückt sich durch die Menschenmenge, die immer wieder nach ihr zu greifen versucht. Ich will fragen, wohin sie geht, aber es ist mir eigentlich egal. Soll sie doch machen, was sie für richtig befindet.
Ich drücke mich an mehreren Menschen vorbei, darunter auch ein Kind, das nicht älter als sechs Jahren sein kann, und strecke die Hand nach dem Mann aus. Er zuckt zusammen, als ich seine Schulter umfasse und ihn in die Höhe ziehe.
„Geht es dir gut?", frage ich ihn und er nickt. Seine weißen Augen zucken zu mir, doch ich fürchte mich nicht mehr vor ihnen. Sie sind leer, aber sind wir hier unten nicht alle leer? Innerlich – vollkommen ohne Erinnerungen an das Leben, das wir einst hatten.
„Freie Auswahl, mein Lieber", ertönt die tiefe Stimme von Ada.
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Leben oder sterben - Jhanta Chroniken 1.5
FantasyBand 1.5 der Jhanta Chroniken. Exklusive Leseprobe. Würdest Du töten, um zu leben? Dein Leben ist zu Ende, viel früher, als Du jemals gedacht hättest. Du bist jung und wolltest noch so vieles erleben und eine eigene Familie gründen. Dafür ist es nu...