Taron
Zuerst hatte ich nur dieses Gefühl, aber als sie aus dem Badezimmer kam, war die Gewissheit da. Sie ist Dunja, die mit dem Protektor, Kateryna und dem anderen Jungen unterwegs war.
Und nun steht sie nur mit meinem Mantel bekleidet vor mir und erinnert sich nicht an das Vergangene. Noch dazu ist sie tot. Das sollte ich nicht vergessen, alles hat Konsequenzen und diese wird sie noch früh genug erleben müssen. Ich kann ihr helfen, aber ich kann sie ihr nicht abnehmen.
Ich stelle mir ein schlichtes, aber buntes Kleid vor, indem sie gut aussehen wird. Obwohl bereits mein Mantel genügt, um sie wie die Sonne strahlen zu lassen. Goldene Funken versammeln sich um meine Hand und kurze Zeit später liegt ein Kleid über meinem Arm.
Dunja weitet die Augen und streckt ihre Hand nach dem feinen Stoff aus, dessen Farbe eigentlich nicht an diesen Ort gehört. Das ganze Schloss ist dunkel und grau. Jeder Einzelne der Familienmitglieder und der Angestellten trägt gedeckte Farben – aber da sie sowieso niemand zu Gesicht bekommen wird, kann sie auch ein bisschen fröhlicher als alle anderen aussehen.
„Diese Fähigkeit, Dinge aus dem Nichts heraufzubeschwören, ist unglaublich", sagt sie und ich reiche ihr das Kleid. Sie bemerkt nicht, dass der Mantel ein wenig verrutscht und mir einen Blick auf den Ansatz ihrer Brüste gönnt.
Sie wartet auf eine Antwort, bis sie meinen Blick bemerkt und sich räuspert. „Meine Augen sind hier oben, Taron." Sie klingt nicht verärgert, eher belustigt.
„Entschuldige", sage ich und hebe einen Mundwinkel. „Du kannst dich umziehen, ich drehe mich auch weg."
„Du schwörst, dass du dich nicht heimlich umdrehst?"
Ich unterdrücke das Lachen, das plötzlich in mir brodelt, und schüttle den Kopf. „Versprochen." Dann drehe ich ihr den Rücken zu und höre, wie Stoff leise raschelt.
Dunja stöhnt auf. „Verdammt, das Kleid ist ziemlich eng. Nächstes Mal könntest du es ein bisschen größer zaubern."
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, während ich die Wand anstarre und schweige.
Nach ein paar Sekunden legt sich ihre Hand auf meine Schulter. Ich spüre, wie sich die Magie in mir an die Stelle, wo sie mich berührt, hinbewegt. Es fühlt sich seltsam, aber nicht unangenehm an.
„Aua", ruft Dunja und lässt mich los. „Was war denn das?"
Ich drehe mich zu ihr um. Ihre blonden Haare fließen in sanften Wellen über das geblümte Kleid, das sich perfekt an ihre Kurven schmiegt.
„Das war die Magie", erkläre ich abweisend. „Du siehst ... gut aus."
Sie sieht mit geröteten Wangen an sich herunter und streicht den Stoff glatt, als wäre sie zu nervös, um mir in die Augen zu sehen. „Danke, Taron. Es ist wunderschön."
Ich bin versucht sie noch eine Weile anzustarren, aber das könnte seltsam auf sie wirken. Also nehme ich ihre Hand und ziehe sie zur Tür.
„Du wirst in diesem Raum schlafen", sage ich. Sie betrachtet das einzige Bett und errötet noch mehr. Ich schüttle den Kopf, kann aber nicht verhindern, dass ich beinahe lächle. „Bis du wieder kommst, steht ein zweites Bett da, Dunja. Keine Sorge."
Sie zieht eine Grimasse. „Ich weiß gar nicht, was üblich ist und was nicht. Auch solche Erinnerungen fehlen vollkommen."
Beruhigend drücke ich ihre Hand. „Es ist egal, Dunja. Du bist hier sowieso in einer anderen Welt", sage ich und öffne die Tür, wobei ich mich zuerst im Gang umsehe.
Der Gang ist leer, genau so, wie es sein sollte. Großvater hat mich schon vor Jahren in einen wenig benutzten Teil der Schlossanlage gesteckt, damit ich ihm so wenig wie möglich unter die Augen trete. Mir ist das recht, denn die Gefühle sind auf beiden Seiten der Front negativ.
„Was ist das hier?", fragt Dunja und berührt die Steinwand, als könnte sie so die Geschichte dieses verfluchten Ortes erfahren.
„Ein Schloss." Ich führe sie den Gang hinunter und biege dann nach rechts ab, aber nicht, ohne mich vorher umzuschauen. Keiner ist zu sehen. Ich führe das tote Mädchen weiter, bis wir vor einer undichten Holztür stehen bleiben. Durch den Türspalt am Boden dringen Essensgeruch und Gerede auf den Gang.
Dunja sieht mich fragend an. Ich öffne die Tür. Sofort herrscht Schweigen in der Küche, die Mägde sehen erschrocken zur Tür. Ein alter Koch humpelt auf uns zu und zieht seine Mütze vom Kopf, die er dann in seinen Händen knetet.
„Meister, wie kann ich Ihnen helfen?"
Ich trete zur Seite und gebe den Blick auf das Mädchen frei. „Sie wird ab sofort als Küchenhilfe bei euch arbeiten." Ich lasse Dunjas Hand los und schiebe sie in die große Küche hinein. „Ihr Name ist Dunja und sie ist neu hier, also behandelt sie gut! Sie steht unter meinem persönlichen Schutz, ist das klar? Keiner – auch keiner der anderen Magier – fasst sie an." Meine Stimme ist leise, aber es liegt genug Drohung darin, damit keiner auf dumme Ideen kommt.
Der Koch und die anderen Bediensteten nicken gehorsam, sie versuchen die Fragen in ihren Augen vor mir zu verbergen. „Wenn sich jemand nach ihr erkundigen sollte, meldet ihr mir das unverzüglich, verstanden? Wer wider meine Regeln handelt, wird bestraft", sage ich.
Dunja berührt mich an der Hand. „Aber was ist mit dem Kleid? Es wird doch dreckig werden ..."
Ich streife ihre Finger, weil die Berührung etwas in mir erweckt. Ich weiß nicht, was es ist, aber es fühlt sich gut an. „Die Magie sorgt dafür, dass es weder kaputt noch dreckig werden kann", sage ich und hebe meine Mundwinkel leicht.
„Und was geschieht danach? Was, wenn ich den ganzen Tag hier arbeite und dann fertig bin?" Mit großen Augen sieht sie mich an, als sei ich ihre einzige Hoffnung. Ein Gefühl, das ich bisher nur einmal erlebt habe, und zwar als Kateryna mich um Gnade bat. Um die Aufschiebung meiner Pflicht, den Protektor auszuliefern.
Bisher habe ich zwar immer noch keinen Protektor, den ich meinem Großvater präsentieren könnte, aber was soll's. Er wird mich sowieso nie wie meinen Bruder behandeln. Ich werde immer der schlechte Enkel sein, der nichts auf die Reihe bekommt, was man ihm aufträgt.
Es ist Zeit, dass ich das akzeptiere.
Ich drücke Dunjas Hand und lasse sie dann los. „Danach kommst du einfach wieder zur Kammer zurück. Schau dich nicht um, rede mit niemandem und pass auf, dass dich keiner außerhalb der Küche sieht." Ich lege meinen Zeigefinger an ihr Kinn und hebe ihren Kopf leicht an. Ihre blauen Augen brennen sich in meinen Blick. „Wir sehen uns später, totes Mädchen."
Sie zieht die Augenbrauen zusammen und funkelt mich an. „Du musst nicht darauf herumreiten, Magier."
Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Sie wendet sich von mir ab und marschiert tiefer in die Küche hinein. Der Rücken kerzengerade, während das geblümte Kleid sanft um ihre Beine schwingt. Eigentlich ist es viel zu kurz, um anständig zu sein, denn die gewöhnliche Länge geht bis zu den Knöcheln. Aber da sie sowieso keiner außer den Küchenbediensteten und ich zu Gesicht bekommen, kann sie ruhig ein wenig mutiger aussehen, als der Rest der Welt.
Dunja dreht sich ein letztes Mal zu mir um, ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen und ich erkenne, dass sie es zu unterdrücken versucht.
Ich hebe meine Hand an die Stirn und salutiere ihr spielerisch zu, bevor ich die Tür hinter mir zuziehe und sie allein lasse. Großvater wird mich erwarten. Und ich will ihm keinen Grund geben, Fragen zu stellen, die zu dem toten Mädchen führen könnten.
Dunja soll mein Geheimnis bleiben.
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Leben oder sterben - Jhanta Chroniken 1.5
FantasyBand 1.5 der Jhanta Chroniken. Exklusive Leseprobe. Würdest Du töten, um zu leben? Dein Leben ist zu Ende, viel früher, als Du jemals gedacht hättest. Du bist jung und wolltest noch so vieles erleben und eine eigene Familie gründen. Dafür ist es nu...