Namenloses Mädchen
Nachdem der Magier, namens Taron, mich in das kleine, angrenzende Zimmer geschoben und die Tür hinter mir verriegelt hat, stehe ich da und starre den Badezuber an, der den Raum fast vollkommen einnimmt. Lediglich ein Wasserklosett befindet sich zusätzlich hier, eingerahmt von einem Mosaik, das wie Blut aussieht und sich über die Wände in seltsame Muster verteilt. Schnörkel und geheime Zeichen. Sie sehen uralt aus. Ich schlinge den Mantel enger um meinen nackten Körper und gehe auf die Wand zu. Die winzigen Steinchen sind rau und scharfkantig, so sehr, dass ich mich beim bloßen Darüberstreichen schneide.
„Mist", flüstere ich und stecke mir den Finger in den Mund. Der metallische Geschmack des Bluts verteilt sich auf meiner Zunge und kriecht meine Kehle hinab, bis ich nichts anderes mehr schmecke.
Ich betrachte die roten Schnörkel auf den weißen Mosaiksteinchen. Haben sie sich gerade bewegt? Ich konzentriere mich. Vielleicht haben meine Augen mir lediglich einen Streich gespielt, denn es bewegt sich rein gar nichts. Alles ist so, wie es war.
„Bist du bereit?", ruft Taron durch die geschlossene Tür. „Kann das Wasser kommen?"
Ich runzle die Stirn. „Der Zuber ist leer."
Das leise Lachen des Magiers lässt die Holztür leicht vibrieren. „Erschrick bitte nicht." Eine Sekunde später beginnt der Boden des Zubers zu brodeln, dann steigt dampfendes Wasser in ihm auf. Wie von Geisterhand.
„Alles in Ordnung?"
Benommen nicke ich, obwohl er mich gar nicht sehen kann. „Äh ja. Danke."
Es entsteht eine kleine Pause, in der ich den Mantel fallen lasse und meinen Finger vorsichtig ins Wasser strecke, um die Temperatur zu messen. Nicht so heiß, dass es meine Haut verbrennt, aber gerade so warm, um meine verspannten Muskeln zu lockern.
Taron räuspert sich. „Wenn du fertig bist, klopf einfach gegen die Tür, dann öffne ich sie."
Mein Bein senkt sich ins Wasser, der Rest meines Körpers folgt. Ich seufze wohlig auf, als die Wärme mich einhüllt, als wäre ich noch ein Ungeborenes im Bauch der Mutter.
„Warum verriegelst du sie überhaupt?", frage ich und sehe mich nach einem Schwamm um, mit dem ich den Dreck von meinem Körper schrubben kann. Aber da ist nirgends einer. Ich will Taron gerade zurufen, als plötzlich ein gelber Schwamm im Wasser direkt vor meinem Kopf auftaucht.
Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, obwohl mir eigentlich gar nicht danach ist. Das Gefühl, sich an nichts erinnern zu können, ist gruselig und seltsam, so als presst die Vergangenheit von außen gegen meine Gedanken, aber sie kommt nicht durch.
„Ich verriegle sie nur zu deinem Schutz ...", sagt Taron, gedämpft durch das Holz, das uns trennt. „Meine ... Familie neigt dazu, grausam zu sein. Ich will nicht, dass sie dich entdeckt."
Ich schrubbe den Staub der Unterwelt von mir, sodass wieder helle Haut zum Vorschein kommt, die leicht gerötet ist, weil ich sie zu fest gesäubert habe. „Bin ich jetzt deine Sklavin?"
Schweigen. Dann sagt er: „Nein. Also nicht so richtig ..."
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Nicht so richtig?"
„Ja. Nicht so richtig."
Danach versiegt das Gespräch.
Ich erstrahle in neuem Glanz, ohne Schmutzflecken und Staub, als ich aus dem Zuber steige. Es gibt kein Tuch, mit dem ich mich abtrocknen könnte, also muss Tarons Mantel erneut herhalten. Er ist mir viel zu groß und schleift hinter mir auf dem Boden. Ich gehe zur Tür und klopfe. Das Schloss wird entriegelt und Taron öffnet die Holztür.
Sein Blick huscht an meinem Körper hinunter bis zu den nackten Zehen, die herausschauen. Er runzelt die Stirn und betrachtet mein Gesicht eingehend. Seine Hand umfasst mein Kinn und er dreht meinen Kopf prüfend hin und her.
Seine Augen weiten sich. „Oh", sagt er. „Ich kenne dich tatsächlich."
„Natürlich kennst du mich, immerhin hast du mich befreit." Ich trete in Tarons Kammer und setze mich vorsichtig aufs Bett. „Was ist los?", frage ich, weil er mich ansieht, als wäre ich ein Geist. Bin ich das vielleicht auch? Ich bin nicht tot, aber auch nicht lebend. „Was bin ich?"
Taron tritt zu mir, seine Augen schimmern leicht golden. „Ich kenne dich", wiederholt er, ohne auf meine Fragen einzugehen. „Du warst mit dieser Kateryna und dem Protektor unterwegs."
„Protektor?" Wovon redet er überhaupt?
Taron öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder. Er reibt seine Augen und starrt mich erneut an. Ich sehe an mir hinab, ob ich an irgendeiner Stelle durchsichtig bin, was auf einen Geist schließen könnte. Aber alles ist ganz normal.
„Was ist ein Protektor, Taron? Und wer ist Kateryna?"
Er setzt sich neben mich aufs Bett, nimmt meine Hand vorsichtig in seine und betrachtet sie eingehend. Ich warte, bis er etwas sagt, aber das tut er nicht. Schweigend sitzen wir nebeneinander, während er meine Hand untersucht. Warum auch immer.
Endlich lässt er sie los und begegnet meinem fragenden Blick. Das Glühen in seinen Augen ist stärker als zuvor, aber ich habe keine Angst. Wie könnte ich auch, da er mich doch vor einer Zukunft als Sklavin in der Unterwelt gerettet hat?
„Ich kenne dich", sagt er erneut. „Kannte dich. Das trifft es wohl besser."
Ich erwidere seinen Blick und suche in seinen Augen nach Antworten. „Meinst du etwa, du hast mich vor meinem Tod schon mal getroffen?"
Er stützt seine Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. „Ja. Zuerst habe ich nur dieses Gefühl gehabt. Durch den ganzen Dreck habe ich dich nicht erkannt ..."
Hoffnung glimmt in mir auf. Ein Funke, der zu einem Feuer heranwächst. Ob er mir dabei helfen kann, mich zu erinnern? An ein Leben erinnern, das ausgelöscht wurde?
Taron steht auf und zieht mich mit sich. Ich halte den Mantel fest um meine nackten Schultern geschlungen, als Schutz vor dem, was nun kommen könnte.
Vielleicht ist es gut, dass ich alles vergessen habe. Was ist, wenn mein Leben enttäuschend war? Will ich daran erinnert werden? Vielleicht kann ich jetzt neu beginnen – ein Leben, ohne eine Vorgeschichte, ohne eine Erinnerung an das, was passiert ist. An meinen Tod.
„Sag es mir nicht, Taron", bitte ich ihn. „Ich will es doch nicht wissen!"
Er schüttelt den Kopf. „Du wirst dich niemals an dein Leben erinnern können. Aber ich kann dir erzählen, was ich weiß. Es ist nicht viel, doch mehr als bisher."
Ich packe ihn an den Schultern und kralle meine Finger in sein Hemd. Er zuckt nicht zusammen oder reagiert sonst irgendwie auf den Schmerz, stattdessen ist er so still wie ein Stein.
„Hör auf, bitte", sage ich leise und eindringlich. „Es gibt einen Grund, warum ich so jung verstorben bin. Mein Leben scheint nicht sehr glücklich gewesen zu sein ..." Ich lasse ihn los. Der Mantel hat sich geöffnet und gibt den Blick auf meinen nackten Körper frei. Sofort zerre ich ihn wieder eng um mich, aber Taron hat mich bereits in der Unterwelt völlig entblößt gesehen.
Er atmet tief durch, dann berührt er meine Hand, die sich fest um den Saum des Mantels klammert. „Einverstanden", sagt er leise. Taron löst meine rechte Hand vom Stoff und dreht sie um, damit die Handfläche nach oben zeigt. „Du hast dich verletzt."
Ich will meine Hand zurückziehen, aber er hält sie fest. „Es ist nichts", sage ich.
„Lass mich dir helfen." Er streicht mit dem Finger über den Schnitt. Ein goldenes Licht erstrahlt aus seiner Hand und geht in meine über. Ich beobachte erstaunt, wie die Wunde sich schließt. Das Brennen verschwindet.
„Blutmagie", erklärt er mit einem Schulterzucken. Das hat er auch schon in der Unterwelt gemacht, als er den Mann getötet hat. Ich habe plötzlich das Bedürfnis, vor ihm zurückzuweichen, aber ich kann es unterdrücken. Er wird mir nichts tun, denn sonst hätte er mich nicht gerettet.
„Was geschieht jetzt mit mir?", frage ich und sehe in seine fast schwarzen Augen, deren Mitte von einem goldenen Kreis umgeben ist.
Taron erwidert meinen Blick. Ruhig. Er steckt die Hände in seine Hosentaschen. Seine Mundwinkel heben sich ganz leicht. „Eine zweite Chance, Dunja."
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Leben oder sterben - Jhanta Chroniken 1.5
FantasiaBand 1.5 der Jhanta Chroniken. Exklusive Leseprobe. Würdest Du töten, um zu leben? Dein Leben ist zu Ende, viel früher, als Du jemals gedacht hättest. Du bist jung und wolltest noch so vieles erleben und eine eigene Familie gründen. Dafür ist es nu...