Normalerweise liebe ich mein Handy. Ich liebe die alten Videos von Oma und Opa, die ich von Papas Festplatte gezogen habe und nun immer wieder abspielen kann, auch wenn ihr altes Schlafzimmer unten jetzt Papas Büro ist. Schon seit Jahren. Ich mag die unzähligen Sprachmemos von Niklas, die ich für immer abgespeichert habe und die ich mir anhören kann, wann immer ich will. Das erste Herz, das Selin hinter eine unscheinbare Nachricht setzte. Urlaubsfotos mit Mama und Papa. Das Gefühl, nicht von der Welt abgetrennt zu sein. Eigentlich.
Jetzt starre ich mit müden Augen auf das schwarze Display. Schalte es alle paar Sekunden ein und blicke auf den Chat mit Selin. Sie hat meine vielen Nachrichten empfangen, aber keine davon gelesen. Das erkenne ich an den beiden kleinen, grauen Haken. Sie ist auch nicht online.
Meine Augen huschen zwischen dem Bild von Daniel an meiner Pinnwand und Selins Profilbild hin und her. Kasias Hände zittern in meinem Kopf noch immer. Sie bekommt das Lenkrad kaum fest umschlossen. Ich denke an Selins Stottern und ihren steifen Körper, weil sie ihre Mutter noch nie so gesehen hat, weil sie das alles, anders als ich, nicht versteht.
Ich ziehe die Beine aufs Bett und dann hoch an meinen Brustkorb. Meine Füße sind eingedeckt von einem noch lauwarmen Wärmekissen. Das mit den kleinen Eichhörnchen. Das, was Mama selbst für mich genäht hat, als ich noch so klein war, dass ich es einmal um meinen Oberkörper wickeln konnte.
Die vielen Fragen in meinem Kopf hämmern von innen unnachgiebig gegen meine Schädeldecke und möchten ausbrechen, aber ich kann sie nicht lassen. Sie sind nicht greifbar genug und in mir baut sich ein Gefühl auf, das sich genauso wenig fassen lässt. Mein Herz ist schwer und es fühlt sich an, als hätte es jemand unter meterdickem Stahl begraben.
Selin ist Kasias Tochter. Kasia war Daniels feste Freundin. Daniel ist tot und jetzt ist Selin meine feste Freundin. Daniel wäre jetzt mein Schwiegervater. Selin wäre gar nicht da, wenn Daniel noch am Leben wäre. Kasia hätte keine Tochter. Keine Selin, die ich lieben würde. Papas Blick würde nicht immer noch manchmal, ganz unscheinbar und still, an einem undefinierbaren Punkt in der Ferne hängenbleiben, während er in Gedanken immer und immer wieder an seinen besten Freund denkt, der tot ist, der nie ein Kind mit Kasia bekommen hat, der erst recht nicht Selins Vater ist.
Das ergibt alles keinen Sinn und ist dabei erschreckend logisch.
Ich stöhne laut auf, lasse das Handy aus meiner Hand gleiten und schließe die Augen. Dann raufe ich mir die hellblonden Haare, als würde das irgendetwas besser machen, und versuche mir somit die Gedankenspirale, die alles nur noch schlimmer macht, aus dem Kopf zu ziehen. Es bringt nichts.
Nicht einmal vernünftig weinen kann ich, obwohl sich die Leere in mir immer weiter mit eiskaltem Wasser füllt.
Wieder und wieder denke ich an den Moment, als ich heute aufgewacht bin. An Selins Haut und den Geruch nach Rauch. Mit Schrecken erinnere ich mich an das, was sich merkwürdigerweise hinter meiner mit Frost übersäten Fensterscheibe abgespielt hat. Daran, dass das alles gar nicht wirklich passiert ist und ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll.
Selin wollte, dass ich betrunken Auto fahre. Ich halluziniere von einem Unfall, der mich mit ziemlicher Gewissheit das Leben gekostet hätte. Binnen derselben zwölf Stunden steht Kasia, über die Papa und Mama nie ein Wort verlieren, vor unserer Haustür.
Überfordert wandert mein Blick wieder zu Daniel an meiner Pinnwand, der wirklich betrunken gefahren ist, der wirklich vor einen Baum gerast ist und dessen Knochen wirklich gebrochen sind. Der nicht mehr hier ist und trotzdem Chaos in mein Leben bringt.
Daniel steckt überall in diesem Haus. Auf den Fotos in fast jedem Raum. In Mamas Schweigen zwischen den Sekunden. In Papas Körperhaltung, wenn er auf manchen Geburtstagen zu viel getrunken hat, obwohl er Alkohol eigentlich gar nicht verträgt. In mir, wenn ich niemandem zum Reden habe und mein Tagebuch mir nicht gut genug zuhören kann. Sogar in meinen Tagträumen taucht er auf, weil ich das Gefühl habe, ein Stück von ihm zu kennen.
DU LIEST GERADE
Glimmern
General FictionDaniel ist ein fester Bestandteil in Mavies Leben - obwohl die Achtzehnjährige den besten Freund ihres Vaters niemals kennenlernen durfte. Noch immer sieht sie ihren Eltern den frühen, schmerzhaften Verlust an und kann gar nicht anders als darüber n...