Kapitel 9 | Ein Fundament aus Lügen

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Seine Stimme. Sie ist mir schon zu Beginn an so merkwürdig bekannt vorgekommen. Und das kommt davon, dass ich sie schon einmal gehört habe. Vor zwei Jahren. In jener Nacht. Er war es, der die Sprachnachricht vom Smartphone meines Vaters geschickt hat. Er war es, der mich zur B-Brücke gerufen hat. Gesehen habe ich ihn jedoch nie. Es war die Vorstellung der Eastfort Ballettschule, am Abend. Zwar habe ich mir den Knöchel verstaucht, das konnte mich jedoch nicht davon abhalten, zur Brücke zu gehen. Jetzt wird mir alles klar. Ich hätte nie erfahren dürfen, was passiert ist. Ich hätte das Loch im Eis niemals sehen dürfen. Das Blut, den geparkten Wagen der Regierung. Eigentlich alles.

Meiner Familie hat man gesagt, dass Scott Mhebric bei einem Autounfall verunglückt ist. Haben irgendeine entstellte Leiche genommen, gemeint, es sei mein Vater. Geglaubt habe ich es nie, aber meine Mutter und Juliet. Die glauben sowieso alles. Warum man nicht die Wahrheit gesagt hat, das hat mich verwundert, aber ich bin dem nicht weiter nachgegangen. Heutzutage darf kein Arzt eine Todesurkunde mit der Todesursache Suizid ausstellen. Das will die Regierung nicht. Denn grosser Gott... wie viele sich seit Beginn das Leben genommen haben, das glaube ich manchmal nicht. Aber es gab genügend Fälle in meinem Umfeld, als dass ich es hätte bezweifeln können. Der Krieg nagt an uns allen, selbst wenn wir ihn nicht persönlich kämpfen.

Gerard Moran seufzt. „Es tut mir wirklich leid, was mit deinem Vater passiert ist, Richard."

Ohne jegliche Regung nehme ich die Beileidsprechung in mir auf. Er hatte mit der Agency zu tun. Er war involviert. Daran gibt es für mich nun keinen Zweifel mehr. Aber warum muss ich für sein Vermächtnis Verantwortung übernehmen? Tränen bilden sich in meinen Augenwinkeln. Ich bin doch nur ein normaler Junge, der nichts anderes als ein normales Leben will. Ich habe keine Lust, in irgendwelche politische Angelegenheiten verwickelt zu sein, ich möchte nur ein Leben leben. Keines, was die Welt schaden könnte.

„Warum erst jetzt?", frage ich, während ich am ganzen Körper zittere. An wen ist die Frage gerichtet? Das weiss ich nicht recht. Warum habe ich erst jetzt die Erkenntnis erlangt? Weil ich die Wahrheit und die Vergangenheit verdrängt habe.

„Ich verstehe, dass es ein grosser Schock für dich ist. Manchmal ist es eben einfacher und angenehmer, die Wahrheit nicht zu kennen. Aber in meinen Augen ist sie wichtig. Du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren. Dein Vater, Scott Mhebric, war ein guter Freund von mir. Deshalb hat mich sein Verschwinden vor zwei Jahren beunruhigt. Er würde sowas niemals machen. Er würde nicht in den Tod springen oder von einer Brücke fallen. Nein, die Wahrheit muss eine andere sein, auch wenn weder du noch ich sie kenne. Ich bin davon überzeugt, dass sein Verschwinden etwas mit dem Ausbruch des Krieges zu tun hat."

Es sind sehr viele Informationen auf einmal. Ich komme nicht hinterher. Meine Gedanken schwirren um das ganze Thema rum, auf einen klaren Schluss komme ich jedoch nicht. Warum weiss er so viel? Wenn er meinen Vater gut gekannt hat, warum habe ich ihn nie kennengelernt? Mir erscheint das Ganze verdächtig. Aber das, was Mr Moran sagt, ergibt irgendwie schon Sinn. Zwar habe ich nicht besonders viel Zeit mit Papa verbracht, aber er war keine Person, die einfach so aufgeben würde. Zuerst würde er nach einer Lösung suchen. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er einmal Suizid begeht. Aber was ist in Zeiten wie diesen unmöglich? Ich habe es hingenommen.

Natürlich hatte ich Fragen. Ich habe allerdings nie Antworten bekommen, weshalb ich irgendwann damit aufgehört habe. Die Antworten hatten mich auch nicht wirklich interessiert, um ehrlich zu sein. Ich musste mich erstmal damit abfinden, dass Papa weg war. Jetzt, nach zwei Jahren... diese Fragen, sie kommen wieder hoch. Dank Gerard Moran.

„Richard, es gibt einen Grund, weshalb ich dich erst jetzt hergeholt habe. Wegen des Krieges herrschte in den letzten zwei Jahren ein einziges Chaos hier. Ständig war ich als Ausbildungsleiter damit beschäftigt, neue Agenten zu trainieren und das Ausbildungsprogramm zu ergänzen. Jetzt erst konnte die Entwicklung abgeschlossen werden. Ausserdem hat Direktor Jefferson nach dem Verschwinden deines Vaters vermutet, dass ich Zweifel an der Selbstmordgeschichte hatte, weshalb ich keine Gelegenheit hatte, mit jemandem darüber zu reden.

Am Abgrund der Zeit | Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt