Auch wenn ich den Schlüssel habe, klopfe ich an seine Wohnungstür. Erst passiert nichts. Einige Augenblicke später wird aufgeschlossen. Er wirkt überrascht.
„Ich dachte, ich sehe dich nicht wieder", meinte er und grinst. Irgendetwas ist anders. Diese Distanz zwischen uns. Ich funkle ihn finster an.
„Und ich hoffte, ich sehe dich nicht wieder."
Er zieht seine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln nach oben, dann stosse ich ihn zu Seite und betrete seine Wohnung. Mein Koffer. Ich gehe zu diesem und schnappe ihn mir, bevor ich mich umdrehe und ihn direkt vor mir wiederfinde.
„Richie", sagt er leise und drückt mir einen Zettel in die Hand, seine Nummer. „Ich werde auch gehen."
Normalerweise hätte ich jedem, der mich so nennt, eine reingehauen. Die Situation im Ernst. Ich sollte ihm keine reinhauen. Um mich abzulenken, gehe ich zum Esstisch und lege darauf den Schlüssel. Den werde ich nicht mehr brauchen.
„Nach Vercem?", frage ich und schaue auf.
„Nach Vercem."
Er seufzt und nickt. „Ich habe es mit der AII ausgehandelt. Mach dir keine Sorgen."
Ich beisse mir auf die Zunge, damit mir kein bissiger Kommentar herausrutscht. Dann schiebe ich ihn zur Seite und mache mich auf den Weg nach draussen. Da höre ich bei der Tür seine Stimme nochmals.
„Was bin ich dir schuldig? Wegen gestern."
Ich drehe mich um, lege den Kopf schief und überlege.
„Einen Gefallen."
Er nickt. Dann schliesse ich die Tür hinter mir. Kathrine schaut mich schon wieder mit diesem „ich-will-alles-wissen-Blick" an. Ich verdrehe die Augen. Eigentlich will ich ihr nicht von der Sache mit Veronica erzählen. Es reicht, dass Sergio und ich darüber Bescheid wissen. Aber ich schätze, ihr kann ich nichts verschweigen.
„Komm schon, Richard, warum ist er dir etwas schuldig?", jammert sie, als wir in den Aufzug steigen.
„Ich habe ihn aus einer verzwickten Situation herausgeholt", murmle ich und drücke den Knopf vom Erdgeschoss.
„Überdosis?"
„Es ist schlimmer als Drogen, Katherine."
Erschrockener Gesichtsausdruck. Ich seufze und lehne mich gegen den blitzeblanken Spiegel hinter mir.
„Willst du das wirklich hören?"
„Ist er etwa mit seinem Penis in einem Staubsauger steckengeblieben?", raunt sie, als wäre das, was sie gerade gesagt hat, das Atemberaubendste auf der Welt. Nun muss ich schmunzeln. Ich schüttle den Kopf. Dann forme ich mit der Hand eine Pistole und mache Schuss-Geräusche.
„Drive-by-shooting?"
„Dann wären wir beide wahrscheinlich nicht mehr da. Ich sag's dir Kat, er wurde angeschossen und ich hab den Idioten extra zu Gilly geschleppt, weil er sich geweigert hat, ins Spital zu gehen."
Ihr Gesichtsausdruck ist verdattert. Sie schüttelt ungläubig den Kopf, bevor sie mich mit einem finsteren Blick anstarrt.
„Richard, warum musstest du sie in die ganze Sache ziehen?", faucht sie und verschränkt ihre Arme. Verdammt, ich hätte ihr davon erzählen sollen, wie es dazu gekommen ist, dass er angeschossen wurde, und nicht, was danach passiert ist.
„Wir hatten keine andere Wahl, okay?" Ich versuche mich zu rechtfertigen. „Es war einfach so viel los, ich musste den verdammten Wagen fahren und da war so viel Blut und..."
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Am Abgrund der Zeit | Band I
General Fiction𝐖𝐎𝐅𝐔𝐄𝐑 𝐒𝐎𝐋𝐋𝐓𝐄 𝐌𝐀𝐍 𝐋𝐄𝐁𝐄𝐍? Zwei Jahre nach dem Verschwinden seines Vaters wird Richard von seiner Mutter aus dem Haus geschmissen. Er sieht es als Chance, ein neues Leben anfangen, um die dunklen Tage zurückzulassen. Doch merkwürdi...