Kapitel 6

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Wincent

Der Sommer war ziemlich entspannt. Wir verbrachten viel Zeit am See oder am Meer. An Tagen, wo es nicht ganz so warm war, hing ich auch viel im Skatepark. Wie man sich seine Ferien eben so vorstellte und wünschte. Hin und wieder fand natürlich auch die ein oder andere Party statt. Und jetzt, wo ich sie einmal gesehen hatte ... fiel sie mir bei jeder einzelnen Party auf. Meistens fiel sie einem spätestens dann auf, wenn sie schon ordentlich ins Glas geschaut hatte. Aber selbst in diesem Zustand blieb sie eiskalt. Wie wurde ein Mensch so? Niemand kam so ... scheinbar gefühlslos ... auf die Welt. Und irgendwie machte sie das so interessant. Dabei war ich mir sicher, dass sie genauso unnahbar bleiben würde und man es gar nicht versuchen brauchte, zu ihr durchzudringen. „Die kann gar nicht fühlen", hatte Christian irgendwann mal in den Raum geworfen. Ja. So wirkte sie. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wirklich so war. Jeder Mensch fühlte. Was musste passieren, damit ein Mensch so wurde? Tatsächlich hatte ich aber auf einer dieser Partys ihren Namen aufschnappen können. Liz. Passte irgendwie zu ihrem Auftreten. Der Name klang frech. Andererseits ... konnte man ihr Auftreten noch als „frech" bezeichnen? Irgendwie klang das noch zu nett. Zumindest nach den Bildern, die ich von ihr hatte gewinnen können.

Nun musste ich diese Gedanken aber endlich mal abschütteln. Das neue Schuljahr stand bevor und wenn ich die Oberstufe überstehen wollte, musste ich wohl doch ein bisschen mehr machen als im letzten Jahr. Seufzend betrat ich das Schulgebäude, um auch gleich ein recht seltsames Spektakel erleben zu können. Vor dem Büro des Rektors stand Liz. In Begleitung von ... schätzungsweise ihren Eltern. Letztere wirkten sehr zufrieden. Sie dagegen hatte den gleichen emotionslosen Blick, wie auch sonst. „Besten Dank Herr Krause. Ich wusste, dass wir uns einig werden", hörte man den Vater sagen. „Aber selbstverständlich Herr von Bregedorf. Wir finden doch für alles eine Lösung", erwiderte Herr Krause freundlich. „Und du solltest dann jetzt zum Unterricht. Denk dran, was wir hier gerade für dich getan haben", wandte sich die Frau nun an Liz. „Ich habe euch nicht darum gebeten", erwiderte letztere kühl, „Ihr könnt mich mal. Einen Scheiß werde ich tun!" Damit hob sie ihren Mittelfinger und verschwand. Aus der Eingangstür. Das war eindeutig nicht der Weg zum Unterricht. Ein wenig perplex schauten Herr Krause und ihre Eltern ihr nach. „Sie müssen unsere Tochter entschuldigen", seufzte Liz' Mutter verzweifelt, „Sie steckt gerade in einer schwierigen Phase." „Schon in Ordnung. Es ist ein schwieriges Alter", winkte Herr Krause ab, „Ich muss mich dann aber auch verabschieden." „Sicher. Und wir versuchen mal, unsere Tochter zur Vernunft zu bringen. Herzlichsten Dank nochmal", verabschiedete sich ihr Vater nun und folgte Liz nach draußen. Was zur Hölle war das jetzt für eine Nummer?

„Moin Wince", begrüßte mich Marco, „Haste 'nen Geist gesehen?" „Äh ne", murmelte ich, „Das war hier nur gerade ein höchst seltsamer Auftritt. Aber egal. Was haben wir jetzt?" „Frei. Hab grad gesehen, dass die ersten zwei Stunden ausfallen. Super, oder? Wir wollen dann jetzt oben chillen. Kommst du mit?" „Hm ne. Das passt mir grad gut, ich hab noch was vergessen und muss noch mal nach Hause", sagte ich schnell. „Sei froh, dass dein Kopf angewachsen ist", Marco schüttelte schmunzelnd den Kopf, „Alles klar. Bis später." Eindeutig die perfekte Ausrede. Ich hatte nichts vergessen. Was sollte man denn auch am ersten Schultag nach den Sommerferien vergessen? Aber da ich in meinem Freundeskreis bekannt dafür war, ständig etwas zu vergessen, glaubte man mir einfach. In Wirklichkeit übermannte mich gerade einfach nur meine Neugier. Und so schulterte ich meinen Rucksack und verschwand aus der Eingangstür und hoffte, dass ich noch unbemerkt folgen konnte. Mir war klar, dass sich das nicht gehörte. Aber diese Liz löste in mir ein so großes Interesse aus, dass ich es einfach tun musste. Was hatte sich da gerade abgespielt? Es war der erste Schultag. Was konnten ihre Eltern bereits da von unserem Schulleiter wollen. Und hatte der Name Liz für mich bisher wie die Faust aufs Auge gepasst, so unpassender empfand ich das Erscheinungsbild ihrer Eltern. Und das machte die ganze Sache irgendwie nur noch Interessanter. Irgendwie war Liz ein riesengroßes Rätsel. Und irgendwie wollte ich dahinterkommen. Verstehen, was sie so interessant machte.

Betonherz - Mein Herz war mit Zement bedecktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt