Mücken mögen Mirabellen (Juni 2015)

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Wieso war das Leben nur so zu ihr?Wieso war ihr niemals beständiges Glück gegönnt? Da war kein Lichtam Ende des Tunnels, nichts, worauf sie hoffte, wartete. Sie schlosskurz die Augen. "Ich liebe dich.", murmelte sie, die Augennur einen Spalt breit geöffnet. Gerade weit genug um das Bilderkennen zu können. Wie jeden Tag musste sie auch heute weinen, alssie ihn sah. Auf dem Bild wirkte er so fröhlich und gut gelaunt,eben ganz anders als jetzt. Auf dem Bild wirkte er lebendig. Es waralles, was sie noch von ihm hatte. Niemand wusste, was er ihrbedeutet hatte. "Was du mir noch immer bedeutest.", sagtesie mit geschlossenen Augen zu dem Bild. Wie jeden Abend kämpfte siemit sich selbst. Es gab zwei Möglichkeiten:

Entweder würde sie schlafen, dasbedeutete Alpträume, aber auch, seine Stimme zu hören.

Oder sie würde nicht schlafen, dasbedeutete eine Nacht lang den Gedanken nachzuhängen. Und eine Nachtkönnte verdammt lang werden. Sie beschloss, zu schlafen, da sieschon die letzten beiden Nächte größtenteils wachlag.

Xxx

Schweißgebadet schlägt sie die Augenauf. Es ist stockfinster. Inzwischen schafft sie es schon, nicht mehrjedes Mal zu schreien, wenn sie einen Alptraum hat. Noch ganzbenommen versucht sie sich an ihren Traum zu erinnern. Im Großen undGanzen ist es jede Nacht der Gleiche. Doch Kleinigkeiten verändernsich immer. Außerdem ist vieles verschwommen. Sie glaubt, dass eseine Mitteilung gibt. Doch jedes Mal, wenn sie aufwacht, ist es weg.Meistens zumindest. Für den Fall, dass sie sich doch erinnert, hatsie extra ein Notizbuch und einen Stift auf dem Nachttisch liegen.Doch heute kann sie sich an nichts erinnern. Sie macht ihreNachttischlampe an. Das gedimmte Licht breitet sich im Raum aus. Alssie sein Bild noch auf dem Nachttisch stehen sieht, erschrickt sie.So etwas darf nicht passieren! Ihre Eltern dürfen das Bild nichtsehen! Schnell schiebt sie es zwischen die Seiten ihres Notizbuchs.Dort versteckt sie es jetzt schon seit zweieinhalb Jahren. Sie löschtdas Licht und sinkt zurück in die Kissen. Warum hatte es so kommenmüssen? Warum hatten sie sich überhaupt kennengelernt, wenn dieseBekanntschaft doch nur zu Trauer und Schmerz geführt hat? Anfangs,ja anfangs war alles ganz gut. Seine und ihre Eltern hatten sichkennengelernt und freundeten sich ziemlich schnell an. Und auch siehatte schnell gelernt, mit den Kindern der anderen Familieaufzukommen, obwohl oder gerade weil sie ein Einzelkind ist. Sie warvon seiner Familie begeistert. Nachdem sie sich ein paarmal gesehenhatten, verliebte sie sich in ihn. Irgendwie kamen sie dann zusammen,aber sie erzählten es ihren Eltern nicht. Sie weiß bis heute nicht,warum sie das damals verschwiegen haben. Dann sah sie ihn und seineFamilie eine Weile nicht mehr. Die einzigen, die noch Kontakt hatten,waren ihre Mütter. Trotzdem wurde ihre Sehnsucht nach ihm immergrößer. Sie schmiedete Pläne, um ihn wiederzusehen. Doch sie hates nie getan. Hat nie versucht einen ihrer Pläne in die Tatumzusetzen. Als sie dann erfuhr, dass er tot war und nicht nur er,sondern auch seine ganze Familie, da brach für sie die Weltzusammen. Das schlimmste an der Sache war, dass sie mit niemandemreden könnte, denn kein Mensch wusste, warum sie wirklich so traurigwar. Nicht einmal zur Beerdigung waren sie gegangen, es warenschließlich nur 'Freunde', die gestorben waren und sie wohnten zuweit weg...

Dann ist da noch der Schmerz. DerSchmerz, der in ihr drin sitzt und manchmal ihr Herz, ihr Denken, ihrganzes Sein ausfüllt. Der Schmerz, der einfach ALLES ist. IhreEltern wissen nichts davon, wozu auch, sie würden es ja doch nichtverstehen.

Sie war sogar heimlich bei einerPsychologin. Diese meinte, dass es besser werden würde. Mit derZeit. Doch er ist jetzt seit drei Jahren tot. Der Schmerz ist sofrisch, wie am ersten Tag. Ihre Lider werden schwer. Erneut beginntsie zu träumen.

Wieder steht sie an der Fahrbahn.Sieht das Auto auf sich zurasen. Schreit,dass sie bremsen sollen.Keiner hört sie. Niemand nimmt sie wahr. An der nächsten Kreuzungpassiert es. Ein LKW von links. Das Auto mit der Großfamilie hatkeine Chance... Sie will schreien, doch sie kann nicht. Der LKW hält.Der Fahrer springt heraus, rennt zu dem Auto, öffnet eine Tür,zieht ihn heraus. Er lebt? Sie ist verwirrt. Bei dem Autounfall ister immer tot. Immer! Keine Ausnahme. "Lassen sie mich. Mir gehtes gut.", sagt er barsch zu dem Fahrer. Es tut ihr gut, seineStimme zu hören. Der Fahrer weicht einen Schritt zurück, starrt ihnerschrocken an. Er lässt den verdutzten Fahrer hinter sich und ruftihren Namen. Einmal. Zweimal. Dreimal. "Du musst mir helfen! Wobist du?" Hier! - will sie sagen. Doch er kann sie nicht sehen,sie kann sich weder bewegen, mich sprechen. Schließlich bricht erzusammen. Jetzt erst kann sie sich wieder bewegen, sofort rennt siezu ihm, doch sie kommt zu spät. Mal wieder! Das Bild 'bricht ab'.Dann beginnt der Alptraum von neuem. Diesmal USt es einFlugzeugabsturz. Danach verbrennen alle im eigenen Haus. Darauf folgtein Mörder, der die ganze Familie erschießt. Als nächstesverhungert die komplette Familie, weil sie beim Wandern in ein tiefesLoch gefallen war. Immer schneller rauschen die Bilder an ihreminneren Auge vorbei. Doch eines bleibt gleich: Immer wieder schreiter kurz vor seinem Tod: "Du musst mir helfen! Wo bist du?!?"

Sie wacht von ihrem eigenen Schrei auf.Sofort beginnt die Erinnerung an die Träume zu verblassen. Siegreift nach ihrem Notizbuch und Stift auf dem Nachttisch, knipst dasLicht an und schreibt die Worte auf, die er immer wieder geschrienhat

Du musst mir helfen. Wo bist du?

Sie klappt das Notizbuch zu. Ihr Blickfällt auf die Uhr. Halb sechs. Was soll's - denkt sie - stehe ichhalt auf. Sie geht ins Bad und duscht gemütlich. Früher war siekein Freund vom Frühaufstehen und morgendlichen Duschen, aber da siesowieso keine einzige Nacht mehr durchschlafen kann, gehört esinzwischen einfach dazu. Es ist ein Wunder, dass meine Eltern nichtsbemerkt haben - denkt sie still. Dann stellt sie das Wasser aufeiskalt und presst die Lippen fest aufeinander, um nicht zu schreien.Das Gefühl, welches sie jedes Mal bei diesem Temperaturumschlag hatist: unglaublich. Sie stellt das Wasser ab und schnappt sich ihrHandtuch. Zehn Minuten später sitzt sie am Esstisch und frühstückt.

Xxx

Der restliche Tag verläuftereignislos. Genauso ereignislos, wie alle anderen Tage. Auch dienächtlichen Träume werden nicht besser. Wie immer sterben sie, wieseit kurzem überlebt er erst, schreit ihren Namen und: "Wo bistdu?" und stirbt dann. Sie glaubt, dass dieser Satz von ihm ebendie Mitteilung ist, auf die sie so lange gewartet hat.

Xxx

Eine Woche später hat sie eine Idee.Eine Vermutung, was der Satz von ihm bedeuten könnte. Doch derGedanke ist so gewaltig und unvorstellbar, dass sie ihn nicht glaubenmöchte. Doch wie es oftmals bei solchen Gedanken ist, setzt er sichin ihrem Kopf fest und wird immer größer und mächtiger:

Sie glaubt, dass ihre Eltern sieangelogen haben. Sie kann es nicht begründen und findet es auchnicht fair ihren Eltern gegenüber, so etwas auch nur zu denken. Aberdie Zweifel sind trotzdem da. Warum sind sie denn kurz nach seinem(vermeintlichen) Tod umgezogen? Warum reden ihre Eltern niemals mitihr darüber, dass seine ganze Familie tot ist?

Doch sie will erst alles überdachthaben, bevor sie zu ihren Eltern geht.

Xxx

Heute ist es so weit. In ein paarMinuten wird sie ihre Eltern zur Rede stellen. Sie setzt sich aufeinen Stuhl in der Küche. Dann hört sie den Schlüssel klappern.Ihre Eltern treten zusammen ein. "Mama, Papa. Ich muss mit euchreden. Jetzt gleich." Ihre Eltern eilen bestürzt in die Küche.Auf geht's - denkt sie.

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Fassungslos. Und das eine ganze Weile.Nie hätte sie gedacht, dass ihre Vermutung stimmt. "...Warum?",flüstert sie endlich. Sie räuspert sich und wiederholt das Gesagte:"Warum? Warum habt ihr das getan? Mich angelogen? Mir erzählt,er sei tot?" - "Liebling.", sagt ihre Mutter langsam.Ihr Vater sagt nichts. Stumm steht er in der Tür. "Liebling,wir wollten nur das Beste für dich.", fährt ihre Mutter fort."Nein!", schreit sie,"Lüge!" Sie fühlt sichschlecht. Ihre Eltern haben sie angelogen. Sie hat jahrelang gelittenunter dieser Lüge. Gleichzeitig fühlt sie etwas, was sie schonlange nicht mehr gefühlt hatte. Glück. Denn er lebt. Seine ganzeFamilie lebt. "Ich will die Wahrheit!", sagt sie.

KGs 2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt