Ja, so wollte sie es. Sie war es leid,immer unterwegs zu sein. Immer auf der Suche. Auf der Suche nachetwas, was es nicht gab. Ganz leise schlich sie nach draußen. Es warkalt, doch sie fror nicht, obgleich sie keine Jacke, sondern nur einT-Shirt trug. Schnell lief sie die Straße hinauf. Erst als sie außerSicht des Hauses war, wurde sie langsamer. Sie wusste nicht, wohinsie gehen sollte. Sie hatte es auch nicht eilig. Also lief sie durchdie Straßen, ohne auf irgendetwas zu achten. Als sie die Brückesah, wusste sie, dass sie am Ziel war. Sie wusste nicht warum, aberdas war ihr auch egal. Leichtfüßig sprang sie die Stufen hinauf.Von oben sah alles anders aus. Sie genoss das Gefühl über allem zustehen, hatte es schon immer genossen. Der Wind blies ihr ins Gesichtund sie öffnete ihren Zopf. Sofort verfing sich der Wind in ihremHaar und wehte es ihr ins Gesicht. Langsam näherte sie sich demGeländer, schaute darüber. Sie spürte, dass das mulmige Gefühlzurückkehrte. Ohne lange darüber nachzudenken, kletterte sie überdas Geländer. Nun stand sie auf der Kante, vor ihr ging es weithinunter. Sie sog die Luft ein. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper.In der Nase kribbelte es wegen der frischem Luft, in ihrem restlichenKörper kribbelte es wegen des Adrenalins. Es war ein wundervollesGefühl, fast so wie sich Glück anfühlte. So wird es also enden,dachte sie. Sein holte tief Luft, schloss die Augen und sprang.
Der Fall kam ihr endlos vor. Wie imTraum schwebte sie schwerelos. Dann hörte sie - wie durch Watte -einen Schrei. Laut, erschrocken, hilflos. Sie selbst blieb stumm. Imnächsten Moment prallte sie auf dem Boden auf und dann - war nichtsmehr. Aus. Vorbei. Sollte es das gewesen sein? Hatten hiervor alleMenschen Angst? Es war grau, undurchdringlich grau, aber sie fühltesich frei. Doch plötzlich wurde sie aus der Stille gerissen. Dannhörte sie seine Stimme. Und er - redete er etwa mit ihr? Es musstevorbei sein. So etwas würde in Wirklichkeit nie passieren. Sielächelte. Es war ihr egal, dass sie nichts sehen konnte. Es war ihralles egal, solange er bei ihr blieb. Er schien im Gegensatz zu ihretwas zu sehen, denn er sagte: "Du lebst? Oh mein Gott, ich rufeeinen Krankenwagen." Seine Stimme entfernte sich, die Wortevermischten sich mit dem Wind. Sie versank erneut in dem endlosengrauen Nebel.
Sie wurde geweckt. Wieder von seinerStimme. Die graue Stille war verschwunden. Jetzt herrschte bodenloseDunkelheit erfüllt mit lauten Geräuschen. Es piepste, surrte undklapperte überall. "Bitte, bitte wach auf." Die Stimmeklang so hilflos und traurig, dass sie einen Klos im Hals hatte. Dochkeine Tränen kamen. Sie hörte, wie sich Schritte näherten.Schnelle, hektische Schritte. Sie hörte deutlich das Klappern vonAbsätzen auf dem Biden. Eine Frau. "Ihre Eltern kommen gleich."sagte eine weibliche Stimme. Er antwortete etwas. Aber es war zuleise. Sie konnte es nicht verstehen. Die hektischen Frauenschritteentfernten sich. "Hast du gehört? Deine Eltern kommen gleich.Oh Gott, was hast du nur getan? Als ich dich auf der Brücke stehensah, da dachte ich: Sie wird doch nicht...", er stockte, "Achbitte, du musst aufwachen!", sie hörte ihn schluchzen. "Wenndu stirbst, dann...", seine Stimme wurde leiser, war nur nochein Flüstern, doch sie verstand ihn trotzdem. "Ich will dichnicht verlieren. Wenn du wüsstest, wie viel du mir bedeutest. Dubedeutest mir mehr, als jede andere Person. Das wollte ich dir sogerne sagen. Doch jetzt ist es zu spät. Ich werde wohl nie erfahren,wie du reagiert hättest." Er machte eine Pause. Damit hatte sienicht gerechnet. Warum hatte er ihr das nicht früher gesagt?
Doch! Ich habe alles gehört - wolltesie schreien aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie konnte nichts,ja nicht einmal die Augen öffnen, oder den Arm bewegen, um ihmbegreiflich zu machen, dass sie ihn verstanden hatte! "Warumerzähle ich dir das überhaupt?", fragte er traurig, "duhörst mich ja doch nicht." Doch! Ich höre alles! Sie versuchtenoch einmal, zu sprechen, doch es war vergeblich. Er fing wieder anzu reden, doch sie verstand ihn nicht mehr.
Langsam entglitt ihr alles.
Jetzt steht er vor ihr. Sie istwunderschön. Auf dem Bild hält sie einen kleinen Hund im Arm. DenHund, der jetzt ihm gehört. Ihre Eltern wollen ihn nicht behalten,also hat er den Hund aufgenommen. Jetzt trösten sie sichgegenseitig. Der Hund und er. Wieder fragt er sich, warum sie dasgetan hat. Warum sie den Hund und alle anderen auch zurückgelassenhat. Warum sie gesprungen ist. Zwei Monate ist das jetzt her. Er istheute zum ersten Mal hier. Auf die Beerdigung hatte er damals nichtgehen wollen. Behutsam legt er den Blumenstrauß auf ihr Grab unddreht sich um. "Komm'!", ruft er seinen Hund, "Gehenwir." Der Platz, der jetzt ihr gehört ist wunderschön,trotzdem wird er nicht wiederkommen. Er sieht sie sowieso in seinenTräumen. Nacht für Nacht sieht er sie springen.