"Hallo. Hast heute um sieben Uhr am Abend schon was vor? Niklas und ich hätten geplant mit dir und seinem Bruder im Salumeria Lamuri essen zu gehen. Hatten schon lange keinen Abend mehr außerhalb der Arbeit gemeinsam. Meld dich einfach. 😘"
Das ist das erste, was Elisa sieht, als sie aufwacht und schlaftrunken ihr Handy entsperrt. Sarah lädt sie ein und sie verspürt einen Anflug von Erleichterung. Sie weiß nicht, wie es ihr ergangen wäre, wenn sie die ganzen Feiertage alleine überstehen sollte.
"Hi. Klar gerne, dann bis um sieben. Freu mich ☺️", schreibt Elisa schnell zurück. Auf keinen Fall will sie auch am ersten Weihnachtsfeiertag zuhause rumsitzen.
Elisa setzt sich ruckartig in ihrem Bett auf. Ein stechender Schmerz durchfährt ihren Kopf. Erst jetzt bemerkt sie, wie schlapp sie sich eigentlich fühlt. Ihr Kopf dröhnt und ihre Glieder hängen schlaff an ihr herunter. Sie hat keine Kraft, um aus dem Bett heraus zu steigen. Sie fährt sich mit ihren Händen über ihre Schläfen und massiert diese leicht. Sie wiegt den Kopf hin und her und versucht sich zu erinnern, was gestern passiert ist. Verschwommene Bilder kommen ihr in den Sinn. Der Weißwein zu ihrem Essen bei schwummrigen Kerzenlicht in ihrer Küche ist eine Sequenz von gestern. Dann der fein gerollte Joint am Wohnzimmertisch mit der Taschentuchbox an ihrer Seite. Dazu dunkle Gedanken und der aufsteigende Hass gegen Heiligabend. An die Kippe zur U-Bahnstation erinnert sie sich. Die tat ihr gut. Sie sollte mit dem Rauchen aufhören. Sie glorifiziert es zu sehr. Sie muss über sich selbst schmunzeln. Sie hatte auf dem Weg wirklich für einen kurzen Moment daran gedacht, dass sie zu ihren Eltern fahren könnte.
"Fuck", entfährt es Elisa in die Stille ihres Zimmers. Wie ein Zucken durchfährt es sie. Eine unangenehme Begegnung hatte sie vor der Bar, als sie eine rauchen wollte. Und danach hatte sie sich ordentlich einen reingekippt. Der Rest des Abends fehlt ihr. Na, denkt sie sich, Glück gehabt, dass sie in ihrem eigenen Bett wach wurde. Fabienne musste sie heimgebracht haben oder sie hatte sich selbst heimgeschleppt. Sie würde sich im Laufe der Woche bei Fabienne im Fitnessstudio im Zweifelsfall bedanken und nachfragen, was der Abend für Elisa neben den zu vielen Gin Tonics noch gebracht hat. Vielleicht ist ihr eine wichtige Erinnerung abhanden gekommen.
Für den restlichen ersten Weihnachtsfeiertag bis zur Verabredung am Abend zieht Elisa ihr Anti-Katerprogramm durch und versucht nicht in eine Katerdepression zu fallen. Doch der erste Weg nach dem Aufraffen aus dem Bett geht für Elisa auf ihren kleinen Balkon. Die Sucht ruft.
Sie stößt die Türe auf und öffnet eine neue Packung Marlboro Gold. Sie reißt das Papier vorsichtig auf, schiebt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündet diese mit ihrem grünen Feuerzeug an. Sie atmet tief ein und merkt, wie sie sich innerlich entspannt. Der Rauch windet sich durch ihre Lungen und sie stößt ihn über ihren Mund aus.
Ihr Blick fällt auf die Straße unter ihr. Es herrscht reges Treiben. Für Ende Dezember hat es warme 15 Grad und deshalb schieben im gegenüberliegenden Köllnischen Park einige Mütter ihre Kinderwägen durch die kleine Anlage. Sie überlegt, ob sie sich jemals selbst mit einem Kind sieht. Ihre biologische Uhr tickt. Sie ist 30 Jahre alt. Doch sie hat sich nie in einer konventionellen Ehe mit zwei Kindern, Doppelhaushälfte am Stadtrand und gepflegtem Garten gesehen. Sie findet es ätzend an ein solches Leben zu denken. Wo jeder einen Labrador besitzt, und die Freunde aus der Siedlung jedes Wochenende zum Grillen vorbeikommen, nachdem sie ab Nachmittag in der Küche gestanden ist und Kartoffelsalat vorbereitet hat. Es ist ihr persönlicher Albtraum.
Elisa klopft die Asche der Zigarette ab.
Sie schüttelt den Gedanken an eine funktionierende Familie ab. Sie mit Mann und Kindern. Unmöglich aus der jetzigen Sicht. Sie ist glücklich redet sie sich ein. Und braucht sie andere, wie etwa einen Mann an ihrer Seite, um glücklich zu sein? Sie ist zufrieden. Mit ihrem Leben in der Großstadt, gutem Verdienst, einer Arbeit, die ihr Spaß macht und mit ihr selbst. Sie kann sich eine Wohnung in Berlin-Mitte mit guter Anbindung an das öffentliche Netz leisten, kann Essen gehen und sich sonst kleinen Alltagsluxus gönnen. Objektiv gesehen geht es ihr nicht schlecht. Objektiv gesehen eben.
Elisa kramt die nächste Zigarette aus ihrer Schachtel. Diese scheiß Sucht. Als Partyraucher angefangen und dann nicht mehr davon weggekommen. Sie wird aufhören. Irgendwann. Wenn ihre anderen Probleme so klein sind, dass Rauchen ihr größtes Problem wird.
Ihre Gedanken springen nur so hin und her und sie kann sie nicht ordnen. Zu oft in den letzten Tagen merkt sie, dass die Gedankenstrudel wieder stärker werden. Sie grübelt sehr lange an irgendwelchen Dingen. Egal, ob diese belanglos sind oder nicht. So kommen ihr Szenarien von vor einer Woche in den Sinn. Wie sie zur Verkäuferin im Aldi "Guten Morgen" gesagt hat, obwohl es schon 13:00 Uhr war. Und sie schämt sich, obwohl sie diese Person nie wieder sehen wird. Aber auch größere Themenkomplexe, wie ihr Selbstwertgefühl belasten sie zur Zeit mental wieder sehr stark. Und dann verliert sie sich in ihren eigenen Gedanken und so versumpft sie in ihrem Bett oder auf der Couch und gibt sich ihren Grübeleien hin. Ohne Sinn und Ziel. Nur mit der Erkenntnis danach, dass sie nicht die Person ist, die sie gerne sein würde. Und um dann diesen Strudel im Gehirn zu entkommen scrollt sie durch TikTok. Schnelle Ablenkung, statt sich mit ihren Gedanken auseinander zu setzen. Und so vergräbt sie sich oft in ihrer Wohnung, macht Homeoffice, bestellt sich Essen oder lässt sich mithilfe von diversen Apps ihre Einkäufe liefern. Bis es irgendwer anders merkt und sie rausholt oder Elisa sich vor sich selbst so schämt, dass sie die Zivilisation wieder betritt. Diese Drepressionsschübe kommen meist über sie, wenn ein großes Projekt in der Arbeit abgeschlossen ist und sie wenig zu tun hat oder eben, wie gerade, emotional aufgeladene Tage anstehen. Aber sie redet sich ein, dass jeder so etwas hat und es somit normal ist. Bis jetzt hat sie es ja immer herausgeschafft. Sie redet sich ein, dass sie keine Hilfe braucht. Sie ist ja "normal". Und selbst wenn nicht, wer ist schon "normal?". Sie bagatellisiert es damit, dass jeder seine Probleme hat.
Und vor allem jetzt kann sie sich nicht damit auseinandersetzen. Dafür schmerzt ihr Kopf noch zu sehr vom Alkohol. Mit dem hat sie auch gestern ihren anbahnenden Depressionsschub weggesoffen.
Elisa verdreht die Augen über sich selbst, streift sich eine Strähne aus ihrem Gesicht und drückt ihre Kippe im Aschenbecher aus. Sie zieht sich ihre Weste enger um ihren Körper und tritt wieder in ihre Wohnung.
Den restlichen Tag verbringt Elisa mit Aufräumen der Überbleibsel von gestern. Sie ekelt sich, als sie den aufgerauchten Joint im Müll entsorgt. Den angebrochenen Weißwein kippt sie im Spülbecken ihrer Küche hinunter. Sie bereitet sich ein leicht verdauliches Essen zu und bearbeitet einige Mails für die Arbeit.
Gegen späten Nachmittag duscht Elisa und richtet sich für den Abend zusammen.
Sie steht mit einem Handtuch um den Kopf vor dem Badspiegel und tupft sich mit dem Applikator Concealer über ihre Augenringe. Sie überdeckt damit ihre leichten Sommersprossen, die sich von ihrer Nase über beide Wangen ziehen. Elisa malt ihre Augenbrauen mit einem hellen Stift leicht nach und tuscht sich mit Wimperntusche die Wimpern. Um ihre braunen Augen nach stärker zu betonen, verdunkelt sie mit Kajal ihre Wasserlinien.
Sie öffnet den Turban um ihren Kopf und beginnt ihre schlüsselbeinlangen Haare zu föhnen. Ihre Haare fallen sofort in leichte Wellen.
Sie lächelt. Sie findet ihre kastanienroten Haare wirklich schön an ihr. Die hat sie von ihrer Oma mütterlicherseits geerbt wurde ihr immer erzählt. Sie ist stolz darauf.
Elisa steht in schwarzer Spitzenunterwäsche vor ihrem Kleiderschrank. Sie entscheidet sich für eine beige Momjeans und kombiniert diese mit einem schwarzen Croptop und schwarzer Pufferjacke. Dazu zieht sie ganz klassisch ihre schwarz-weißen Vans an und hängt sich ihre beige Tommy-Hilfiger Shoulder Bag schräg um ihren Oberkörper. In diese schmeißt sie ihr Handy, ihren Geldbeutel und ihre, schon wieder fast leere, Zigarettenschachtel. Diese würden ihr aber heute nicht ausgehen, schwört sie sich.
Sie betrachtet sich im Spiegel. Ja, kann man ansehen, beschließt sie mit einem kritischen Blick und macht sich auf den Weg.
"Hey Eli.", begrüßt Sarah sie, als sie am Treffpunkt an der Ecke Zeughofstraße - Köpenickerstraße angelangt ist. Elisa nickt ihr zu und zieht sie in eine kurze Umarmung.
"Hallo Niklas, schön dich mal wieder zu sehen.", spricht Elisa anschließend aus und dreht sich zu Sarahs Freund. Sie reicht ihm die Hand, die er erwidert und sie ebenfalls begrüßt. Sarah schaut sich in alle Richtungen um und sagt: "Marius kommt noch. Der verspätet sich mal wieder. Aber sag, wie war dein Tag bisher?"
Elisa schmunzelt und antwortet: "Verkatert."
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Zigarettenpause [Felix Lobrecht FF]
Roman d'amourElisa ist schwierig. Sie steckt in einer Phase voller Depressionsschübe, Gedankenstrudel und dem dauernden Gefühl von alleine sein. Und dann kommt ein Angebot in ihr Leben. Ungezwungener Geschlechtsverkehr, der ihr Selbstwertgefühl für wenige Stunde...