23

222 13 29
                                    

🦋🦋🦋

Seit einer Woche war Mr. Henderson bereits hier bei uns und man konnte nicht sagen, dass Aiden auch nur einen Funken ruhiger geworden war. Er achtete darauf, seinen Vater so gut es ging von mir fernzuhalten und schloss nachts wohlweislich die Tür ab.

Tagsüber stürzte er sich gemeinsam mit seinem Vater in Arbeit, wohl auch, um ihm zu beweisen, dass ich ihn keineswegs ablenkte oder schwächer machte.

Es schien ihm jedoch nicht zu gefallen, wenn ich so viel Zeit mit einem anderen Mann im selben Raum verbrachte, denn Alexej hatte mir bei einer ruhigen Gelegenheit erzählt, dass er nun nicht mehr auf mich aufpassen, sondern draussen patrouillieren sollte. Um meine Sicherheit dennoch zu gewährleisten, schloss er mich nun tagsüber in mein Zimmer ein und brachte mir – jedes Mal mit einem entschuldigenden Blick – gelegentlich eine Mahlzeit vorbei.

Das ganze machte mir Angst, denn es bedeutete, dass Aiden zumindest mittlerweile die Idee gekommen war, seine Angestellten könnten echte Menschen mit echten Gefühlen und nicht nur dressierte Hunde sein. Er zog nun wohl doch in Betracht, ich könnte mich mit Alexej anfreunden und wollte dem vorbeugen.

Dummkopf. Er war zu lange zu arrogant gewesen, denn ich hatte mich mit meinem Wachmann nicht nur angefreundet: ich hatte mich Hals über Kopf in ihn verliebt! So sehr, dass mein Herz raste, wenn er auch nur in der Nähe war und ich jede Nacht davon träumte, endlich mit ihm fliehen zu können.

Es war doch eigentlich der blanke Hohn: Aiden entführte mich, um mich ganz für sich allein zu haben und von der restlichen Aussenwelt zu isolieren. Er wollte mich mürbe machen, mich manipulieren und zugegeben: Er hatte es teilweise geschafft. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich Dinge dachte, die absolut irrational waren und für die ich mich schämte.

Aber er hatte mir eben auch – in seinem Versuch mich zu isolieren – genau die Person vor die Nase gesetzt, für die mein Herz jetzt schlug und in deren Armen ich viel lieber liegen würde.

Weil ich seit einer Woche endlich wieder mehr Raum für mich selbst hatte – Aiden verbrachte immerhin kaum Zeit mit mir und nachts gab ich mir Mühe, schnell einzuschlafen – konnte ich endlich einmal meine Gedanken sortieren.

Es hatte sich seltsam angefühlt, wie der Nebel in meinem Kopf sich langsam gelichtet hatte, aber ich bildete mir ein, wieder viel klarer sehen zu können.

Obwohl ich auf einer rationalen Ebene immer gewusst hatte, das Aiden ein schrecklicher Mensch war, der mehrere Menschen – allen voran meine Mutter – auf dem Gewissen hatte und der mir Gewalt angetan hatte, hatte es sich nach einer Weile einfach nicht mehr so angefühlt.

Jetzt spürte ich es wieder. Ich spürte jedes Mal, wenn er abends das Zimmer betrat eine unbändige Wut und es erschien mir auf einmal wie eine gerechte Strafe für ihn, mich zu verlieren. Noch immer empfand ich Mitleid für ihn und seine Kindheit, aber wahrscheinlich war es deshalb umso besser, dass ich Hailey und Bo und Anastasia kannte. Wenn ich an sie dachte, dann entflammte mein Herz. Sie alle waren so rein, obwohl ihnen so Schreckliches widerfahren war.

Es war also okay, mit Aiden Mitleid zu haben und gleichzeitig anzuerkennen, dass er ein schlechter Mensch war.

Zuvor hatte ich immer gedacht, ich müsse mich zwischen diesen beiden Ansichten entscheiden. Das hatte mich emotional in eine Zwickmühle gebracht, denn es war unabänderlich, dass ich Mitleid hatte. Die Erkenntnis, dass es okay war, hatte mir eine riesige Last von den Schultern genommen.

Ich seufzte und liess mich rücklinks auf das grosse, weiche Bett fallen, das ich jede Nacht mit Aiden teilen musste. Die Lage war aussichtslos und doch ging es mir heute besser als noch vor zwei bis drei Wochen, denn endlich gehörten meine Gedanken und meine Gefühle wieder ganz mir selbst.

captiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt