Epilog

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„Bist du aufgeregt?", fragt Ella und scheint dabei selbst total nervös zu sein endlich meine Wohnung einzurichten und zu beziehen. Ich nicke wahrheitsgemäß und lasse einen der Kartons in der Küche nieder. „Irgendwie komisch wieder allein zu wohnen und auszuziehen. Na ja, was heißt wieder. Von meinen Eltern bin ich zu Zach und von Zach wieder zu meiner Mutter gezogen. Es wird ungewohnt sein, aber ich denke, es tut mir gut. Ich muss einen Schritt vorwärts gehen." Ella nickt stolz und ich mustere die Küche, als sie wieder raus zu Deniz und Luce läuft, die mir heute auch helfen. Die Wohnung lebt ganz nach dem Prinzip klein, aber fein. Allein reicht mir die Größe vollkommen und ich hatte tatsächlich Glück durch Ellas Vater so eine schöne Wohnung zu diesem Preis in Berlin zu bekommen. Sie liegt im dritten Stock eines schönen, älteren Gebäudes, doch die Wohnung ist modern und zeitgemäß renoviert worden. Da die Küche und das Wohnzimmer durch keine Wand getrennt sind, wirkt alles etwas größer und die beigen Wände und die weiße Küche passen perfekt zu der Einrichtung, die ich vorgesehen habe. Durch die großen Fenster scheint die Sonne herein und erhellt das Wohnzimmer wunderschön. Am Schlafzimmer und dem Bad habe ich nichts auszusetzen und der kleine Balkon freut mich besonders. Obwohl lediglich Platz für zwei Stühle ist kann ich es kaum abwarten dort mit Ella einen Kakao zu schlürfen und uns über die neusten Geschehnisse zu unterhalten. „Nicht so viel träumen", ruft Luce mit einem riesigen Karton in den Händen und stellt ihn lächelnd neben mir ab. „Lass mich in Ruhe träumen", erwidere ich lachend und beginne ihm weiter zu helfen. Eigentlich ist heute Schluss mit träumen, denn ab heute habe ich mir einiges vorgenommen. Ab heute ist Schluss mit fantasieren, denn ab nun wird gemacht. Ich träume nicht mehr in der Vergangenheit rum, sondern lebe im Hier und Jetzt und konzentriere mich auf die Zukunft. Ab heute wird akzeptiert, dass die Vergangenheit ein Teil von mir ist, doch erkannt, dass ich keiner mehr von ihr bin. Das letzte Gespräch mit Zach war eigentlich ein Teil von etwas viel Größerem. Es hat Wunden von vor dem Gespräch, von vor dem ganzen Drama und von vor dem Unfall und dem Tod meiner Schwester aufgerissen. Es hat einen ganz großen Stein ins Rollen gebracht, der mich erkennen lassen hat, dass ich an viel mehr arbeiten muss, als an der gescheiterten Beziehung. Das Gespräch hat mir nicht nur ein gebrochenes Herz gebracht, es hat mich erkennen und fühlen lassen, dass ich gebrochen bin. Schmerz immer schweigend einzustecken ist nur so lange eine Option, bis ein Auslöser kommt, der dieses wackelige Konstrukt in uns einstürzen lässt. Bis uns vor Augen gehalten wird, was wir damit angerichtet haben - nämlich uns selbst Stück für Stück kaputt zu machen. Wir kommen nicht drum herum uns mit unseren Wunden zu beschäftigen. Es aufzustauen und zu sammeln macht es also nur noch schlimmer. Ich konnte gar nicht diese Beziehung oder mein Leben nach dem Unfall retten, weil ich erstmal mich selbst retten musste. Ich habe mich selbst verloren. Auch schon lange vor dem Unfall damals. Letztendlich muss ich ganz allein an mir selbst arbeiten, bevor ich alles andere auf die Kette bekommen kann. Man muss bei der Basis anfangen, bevor man weiter Türme baut und die Basis ist meine Seele, mein Selbstwertgefühl und mein Lebensgefühl. Ich habe so sehr versucht dieses Kartenhaus mit ihm, dieses Kartenhaus meines Lebens, wieder aufzubauen, doch das ist fast unmöglich, wenn die Basis und der Untergrund nicht stimmig ist. Wir können uns in so vielen Situation im Leben auf andere verlassen, Arbeit abgeben oder Dinge für uns machen lassen, aber am Schluss, wenn es darauf ankommt, was wir aus uns machen, stehen wir ganz allein da. Wir ganz allein treffen die Entscheidung unseres Lebens, da wir genau diese ändern können, wenn wir unsere Geisteshaltung ändern.  Ich entdeckte letztens in einem Buch ein chinesisches Sprichwort, das besagt: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen Windmühlen". Vielleicht ist genau das der Fehler. Die Veränderungen kommen immer und immer wieder und es hilft mir nicht Mauern zu bauen, um mein altes Leben zu bewahren und zu hoffen, dass alles beim Alten bleibt. Ich werde immer in diesen Mauern bleiben und so tun, als wäre immer noch alles wie es einmal war, obwohl draußen schon ein ganz frischer, neuer Wind weht, mit dem viele Dinge und Menschen gegangen und viele neue Chancen gekommen sind.  Und Ella hat Recht; ich kann dagegen solange protestieren wie ich will, was wird das verändern? Alles was ich verändern kann ist anders mit dem Wandel umzugehen, die Mauern zu stürzen und Windmühlen zu bauen, um all die Veränderungen zu meinem Vorteil zu nutzen, denn genauer dieser Geisteswandel in der Zukunft und für die Zukunft ist der Punkt. Für Schwache und sich Fürchtende wie mich ist diese Zukunft immer unerreichbar und beängstigend, aber vielleicht sollten genau diese den Mut aufbringen, die Zukunft als Chance zu sehen. Und ich habe nun diese Chance. Ich hatte mehrmals eine Chance, aber ich habe es einfach nicht gepackt, weil ich noch nicht bereit war, die Mauern endgültig einstürzen zu lassen. Dabei liegt doch alles nur bei mir. Keiner kann dir sagen wie du denken musst, was du machen musst, wie du leben sollst. Keiner befielt mir, ständig in der Vergangenheit zu leben oder alles kaputt zu machen, was ich mir wieder aufgebaut habe. Keiner war an all diesen Entscheidungen, nach und vor dem Unfall, beteiligt. Außer ich selbst. Nur ich selbst bringe mich immer und immer wieder in diese Situationen. Ich bin die Einzige, die Schuld daran ist, wie ich handle und denke. Und genauso, wie ich zu einhundert Prozent die Macht darüber habe, habe auch ich allein die komplette Macht darüber, all das zu verändern. Ich selbst habe die Macht darüber, am nächsten Morgen aufzustehen und alles anders zu machen. Alles besser zu machen, anders zu denken.  Und sobald du verstanden hast, dass du allein verantwortlich bist, allein alles ändern kannst und allein auch nichts gegen die Vergangenheit tun kannst, außer die Zukunft besser zu machen, hast du es geschafft. Bist du auf dem richtigen Weg angekommen und kannst deine eigenen Windmühlen bauen oder alles andere machen, was du möchtest, weil es dein Leben ist. Es kostet mich viel Zeit und Monate später sitze ich in meiner Wohnung auf dem Sofa, schaue mir durch die Fenster die großen Schneeflocken an und denke immer noch über diese Worte nach, aber das ist okay. Es braucht Zeit für sich selbst und das ist vollkommen in Ordnung. Ich beginne an der letzten Weihnachtszeit anzuknüpfen, denn da hatte ich bereits einen richtigen Weg eingeschlagen. Ich beginne mich mit allem auseinanderzusetzen, was mich belastet und löse mich nach und nach von dem, was so viel Positivität raubt und an meinem Selbstwertgefühl zehrt. Sich selbst wieder aufzubauen kann mit das Schwerste sein, aber nichts tut so gut, wie Erfolge zu sehen. Sich selbst von außen zu beobachten und zu sehen, wie das Lachen und die Motivation zurückkehrt. Es mag für manche Menschen oft wie Kleinigkeiten klingen, oder völlig übertrieben, doch sich selbst und sein Leben zu hassen kann einen Menschen so sehr blockieren, bis er vielleicht gar nicht mehr hier sein möchte und es ist unfassbar schwer wieder in den Spiegel zu schauen und stolz zu sein auf das, was man sieht und glücklich zu sein, dass man hier auf dieser kleinen Welt sein darf. Heute bin ich unfassbar glücklich sogar. Unsere Leben sind auf die Masse gesehen ein kleiner Sandkorn. Unser Planet ein weiteres Sandkorn. Manchmal vergessen wir aber, dass es umso bedeutender, größer und mächtiger für jeden von uns selbst ist. Dankbarkeit ist ein großer Bestandteil der Gefühle, die mir aus diesem Loch geholfen haben, denn ich bin es mehr, als je zuvor. Dankbarkeit hilft mit dem zufrieden zu sein was man hat und ist gleichzeitig eine Motivation noch mehr aus sich zu machen, weil man diese Chance des Lebens hat. Ich habe sie ein zweites Mal bekommen und ich lasse mir von nichts und niemandem mehr diese Chance auf eine bessere Zukunft vermiesen – auch nicht von mir selbst, denn ich war mein größter Feind. Ich schiele zu dem ungeöffneten Brief, der neben mir auf dem Sofa liegt. Obwohl ich seit Wochen sehnsüchtig auf ihn warte, vermeide ich seit einer Stunde ihn zu öffnen. Schwer schluckend gebe ich mir dann doch einen Ruck, reiße den Umschlag auf und ziehe die Zettel raus. Das Logo der Universität springt mir als erstes ins Auge und ich atme noch einmal tief durch, bevor ich beginne zu lesen. Als ich den Brief wieder zur Seite lege steigen mir Tränen in die Augen und ein breites Grinsen ziert meine Lippen. Es sind Tränen, weil ich stolz bin. Stolz auf mich selbst und es ist ein schönes Gefühl. Nach meinem Einzug entschied ich mich kurzerhand mich für ein Studium zu bewerben. Für das Studium, von dem ich immer träumte, doch nach der Schule nie umsetzte. Als ich eines Abends genau hier an dieser Stelle saß stellte ich mir die Frage; warum war ich immer wütend und enttäuscht, dass ich bloß kellnern ging, als zu studieren, anstatt es einfach zu tun? Warum hat mich das immer so belastet und ich habe nicht einfach begonnen? Warum erzählte ich Avan bei unserem Date von einer Mila, die ich gerne sein wollte, aber nicht war, anstatt einfach diese Mila zu werden? Ich bewarb mich total kurzfristig für Anfang nächsten Jahres und nun hat es geklappt. Das, wovon ich immer träumte, aber bis heute nicht weiß warum es bloß ein gescheiterter Traum war, der mich dann belastet hat, weil ich unzufrieden war. Glücklich über die Annahme fahre ich mir über das Gesicht und kann sagen, dass ich heute zufrieden bin. Ich bin glücklich. Glücklich mit mir selbst und das ist ein großes Geschenk, das ich mir selbst erarbeitet habe und darauf kann ich stolz sein. Ich habe akzeptiert, wie mein Leben verlaufen ist. Ich habe mein gebrochenes Herz selbst geheilt, mein zerstörtes Ich wieder zusammengeflickt und mit allem was war abgeschlossen und meinen Frieden damit gefunden. Ich habe wieder zugenommen, mache regelmäßig Sport, gehe wieder gerne aus oder mache mich schick. Genauso gerne kann ich auf meinem Sofa liegen, einen Film schauen und bin einfach zufrieden. Mit Gesellschaft und ohne, ich bin im Einklang mit mir selbst. Natürlich gibt es immer kleine Baustellen, keiner kann eine makellose Version sein und ich kann nicht jeden Tag mit einem überglücklichen Lächeln durch die Gegend laufen, doch das darf auch nicht der Anspruch sein, sonst kann man nie zufrieden werden. Ich habe ein tolles Verhältnis zu Freunden und Familie, mein Café läuft gut, ich habe eine eigene Wohnung und mir nun meinen Wunsch von diesem Studium erfüllt. Und vor allem bin ich stärker denn je. Obwohl ich viel zu früh dran bin meine Mutter aus dem Krankenhaus abzuholen, die aufgrund von ein paar Untersuchungen drei Tage dort war, gehe ich schon los. Ich bin zu aufgeregt, um noch weiter hier zu sitzen. Heute gehe ich nur als Besucher, nicht als Patient. Seit Monaten nehme ich keine Medikamente mehr und ich fühle mich besser denn je. Ich fühle mich gesund und ich habe das Gefühl ich strahle viel mehr. Als ich geparkt habe und auf das Gebäude zulaufe, bin ich bereit. Ich bin bereit meiner Mutter von der Zusage zu berichten und ich bin bereit in wenigen Tagen in ein neues Jahr zu starten, von dem ich sicher bin, dass es toll wird. Ein Jahr hat es mich gekostet da zu sein, wo ich nun bin und es ist immer wieder heftig für mich darüber nachzudenken, was für eine Wandlung ich gemacht habe. Nach außen hin scheint es nichts Großartiges zu sein, doch der größte und wichtigste Teil dieser Wandlung spielt sich in meinem Kopf ab. Ich bin bereit für ein Jahr mit den Leuten, die mir gut tun und für ein Jahr, in dem ich neue Dinge lerne und Sachen nachgehe, die mir Spaß machen. Ein neues Jahr, in das ich ganz anders starte, als in dieses. Ich betrete das Gelände des Krankenhauses und lächle, denn ich bin absolut bereit. Als ich auf den Eingang zusteuern will, schweift mein Blick zu der Bank links neben dem Gebäude. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Nicht mal mehr meinen Atmen nehme ich wahr. Instinktiv habe ich jedes Mal, wenn ich innerhalb dieses Jahres das Krankenhaus besucht habe, zu dieser Bank gesehen. Ich habe nie aktiv darüber nachgedacht, was ich erwarte. Heute sitzt dort Zach mit einem Strauß gelber Tulpen in der Hand und gesenktem Kopf und ich fühle mich, als würde ich in eine andere Zeit zurückkatapultiert werden. Leute gehen hektisch an mir vorbei, Bäume wiegen sich im Wind hin und her und Schneeflocken fallen vom Himmel, doch für mich bewegt sich alles in Zeitlupe. Ich weiß nicht wie ich mich fühle und was ich denke, für den Moment existiere ich einfach. Ich würde lügen, wenn ich sage ich hätte nach unserem letzten Gespräch nie wieder gehofft er würde mich kontaktieren oder im Café aufkreuzen. Nichts davon hat er jemals in diesem ganzen Jahr getan und obwohl es zwar wehtat, habe ich mir so lange gesagt, dass es besser so sei, bis ich es mir selbst geglaubt habe. Natürlich habe ich anfangs nicht widerstehen können nach seinen sozialen Medien zu suchen und natürlich hätte ich Ella am liebsten jeden Tag gefragt was er macht, wie es ihm geht und was er so treibt. Natürlich habe ich mir den Kopf zerbrochen über Möglichkeiten und Chancen, die es eventuell noch für uns gibt, aber irgendwann musste ich damit auch einfach aufhören. Irgendwann habe ich nämlich gemerkt, dass es nicht nur um die Frage geht, ob und wann und wie das noch klappen könnte zwischen uns. Es ging nicht nur um die Worte, die er mir vor fast genau einem Jahr an den Kopf warf und es ging nicht nur darum, ob ich ihm das so glauben kann oder, ob er doch eine falsche Entscheidung getroffen hat. Es ging zu aller erst einmal um mich. Ich erkannte, dass ich nicht in der Lage war eine gesunde und stabile Beziehung zu führen, wenn ich selbst ein kaputter Haufen war. Mit niemandem, deshalb traf ich auch keine anderen Männer. Wie soll ich meinem Partner konstant sein, ihm Sicherheit schenken und ihm der Anker sein, wenn ich selbst in diesen Wellen verloren bin? Und egal wie sehr mein Partner andersrum versuchen würde mir das zu geben, ich brauche eigenständige Kraft, um nach diesem Anker und dieser Rettung zu greifen. Und diese hatte ich nicht. Ich habe mich nach dem Unfall so sehr darin verrannt diese Beziehung zu retten, dass ich gar nicht auf mein Inneres gehört und die Frage gestellt habe, ob ich das überhaupt kann. Ich habe gelernt allein zu sein, allein glücklich zu sein und nicht mein Glück von jemandem abhängig zu machen. Dinge, die ich schon lange vor dem Unfall hätte lernen sollen. Ich habe mich so sehr auf alles andere als ihn konzentriert, dass ich mit der Zeit aufgehört habe auf etwas von ihm zu hoffen. Einfach, weil ich auch nicht dachte, dass noch etwas kommen würde. Wahrscheinlich bin ich deshalb umso überraschter, dass er ohne jeglichen Kontext oder ohne ein Zeichen hier auf der Bank sitzt. Nicht für eine Sekunde denke ich, dass er wegen jemand oder etwas anderem hier ist. Ich weiß ganz genau, dass diese Blumen nur für mich sind. Als würde er meinen erstarrten Blick spüren, schaut er auf und direkt in meine Augen. Sein Mund steht leicht offen und obwohl er derjenige von uns, der gezielt auf mich treffen wollte, wirkt er perplex und überfordert. Langsam steht er auf, die Blumen lässt er hängen, die Kapuze streicht er sich aus dem Gesicht und geht dann zielstrebig auf mich zu. Ich weiß nicht welches Gefühl und welcher Gedanke mich dazu treibt, doch auch ich gehe mit festen Schritten auf ihn zu. Erst als wir voreinander zum Stehen kommen und ein paar Sekunden verstreichen, zieht er die Mundwinkel leicht nach oben und sagt: „Hallo, Mila." Seine Stimme versetzt mich in alte Zeiten und seine Augen funkeln wie früher, auch wenn er müde und erschöpft wirkt. Ein Jahr mag wenig klingen, doch in dieser Zeit habe ich so einen großen Sprung für mich selbst gemacht, dass mir die Zeit nach meinem Unfall wie eine Ewigkeit her vorkommt. „Hallo", erwidere ich und es fällt mir sogar schwer seinen Namen auszusprechen. Er mustert mein Gesicht, was mich etwas nervös werden lässt und ich finde es unfassbar seltsam, wie vertraut und gleichzeitig distanziert ich mich ihm fühle. Das letzte Mal, als wir uns wegen meines Unfalls erst nach langer Zeit wiedersahen, dachte ich ihn nicht mehr zu kennen. Heute kennt er auch mich nicht mehr. „Ella hat mir gesagt, dass du heute hier deine Mutter abholst." Als ich die Stirn runzle, spricht er weiter: „Ich musste sie erpressen." Als könne er meine Gedanken lesen weiß er, dass ich mich tatsächlich gefragt habe, weshalb Ella ihm nach einem turbulenten Jahr steckt, wo ich wann bin. Sie war meine größte Hilfe, wenn es darum ging, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen und nichts mehr von ihm mitzubekommen und obwohl Zach und ich den gleichen Freundeskreis haben, haben die drei es unfassbar gut gelöst und ich habe nicht eine Sache von Zach mitbekommen oder bin auf ihn getroffen. Er hebt die Augenbrauen und hält den Strauß wieder hoch, als hätte er vergessen, dass er ihn dabei hat. Stumm starre ich auf die Blüten zwischen uns. Erst, als er sie in meine Richtung schiebt, hebe ich langsam die Hand, um sie ihm abzunehmen. „Ich frage mal nicht, woher du mitten im Winter Tulpen hast", witzle ich, ohne eine Miene zu verziehen und um von dem seltsamen Gefühl in mir abzulenken. „Lieber nicht", grinst er und wirkt irgendwie gut gelaunt und glücklich, obwohl sein Auftreten und Aussehen mir vermittelt, dass das noch nicht so lange der Fall ist. „Ich hätte erst in über einer Stunde meine Mutter holen müssen, seit wann sitzt du schon hier draußen in der Kälte?" Er zuckt mit den Schultern. „Vielleicht ein, zwei Stunden. Ich weiß nicht genau. Um ehrlich zu sein war ich so nervös, dass ich einfach nicht mehr zu Hause warten konnte. Ich habe nicht mal wirklich schlafen können letzte Nacht, deshalb sehe ich so fertig aus." Je länger wir hier stehen und je mehr er spricht, desto weniger kann ich mir erklären, was das hier wird und worauf es hinausläuft. „Was tust du hier?" Er seufzt kaum merklich auf und meidet meinen Blick, als hätte ich eine total schwierige und nicht vorhersehbare Frage gestellt. „Wollen wir uns setzen?", fragt er und deutet mit dem Kopf Richtung Bank. Ich nicke und er fegt das bisschen Schnee von der Sitzfläche, bevor ich mich dort niederlasse. Mir entgeht nicht, wie er instinktiv zu dem Fenster hoch schaut, das zu meinem damaligen Zimmer gehört und ich erinnere mich wie er erzählte, dass er immer hier gesessen sei, wenn er mich besucht habe, um kurz abzuschalten. „Ich habe mich so lange auf diesen Tag vorbereitet und nun sitze ich hier und bringe nicht mal ein Wort raus." Ich nicke automatisch, weil das genau mein Gedanke war, als ich vor einem Jahr in seiner Küche stand. Es ist komisch den Menschen anzusehen, dem ich mal am nächsten war und nun nicht einmal mehr zu wissen, ob er verheiratet ist, zwei Kinder hat, noch in seinem Haus wohnt und wo er inzwischen arbeitet. „Warum bist du heute hier? Kurze, knackige Antwort", versuche ich es nochmal und hoffe ihm zu helfen die Worte zu finden. „Ich bin hier, um den richtigen Weg einzuschlagen." Ich weiß nicht womit ich gerechnet habe, aber diese kurze Zusammenfassung überrascht mich. „Ich bin hier, weil ich endlich auf mein Herz gehört habe." Er merkt, dass ich mit jedem Wort mehr Fragezeichen in meinem Kopf habe und ich merke, dass es ihm unfassbar schwer fällt zu sprechen. Deshalb fängt er ganz von vorne an und ich gebe ihm die Zeit. „Ich weiß nicht wie lange ich regungslos dastand, als du letzten Winter gegangen bist und die Tür hinter dir zufiel. Ich glaube das letzte Mal, als ich so eine leere spürte, war der Tag deines Unfalls. Ob du es mir glaubst oder nicht, ich wollte noch im selben Moment diese Tür wieder aufreißen und dir hinterher rennen, aber ich habe es nicht getan. Weißt du warum? Aus Angst. Kommt dir das bekannt vor?" Ein ironisches Lächeln ziert seine Lippen, als er meinen Blick erwidert und ich nicke. Bekanntes Muster, bekannter Fehler. „Ich war ein feiges Stück und ich habe nicht aus deinem Fehler gelernt. Leider müssen wir Menschen den Fehler immer erst selbst begehe, um eine Lehre daraus zu ziehen. Ich habe versucht mir einzureden, dass es so besser für dich, für mich und für Alara sei und ich habe wirklich versucht dich aus meinem Leben zu verbannen. Ich habe versucht meine Beziehung neu aufleben zu lassen, alles besser zu machen. Ich habe deine und meine Wohnung abgegeben, alles, was ich von dir hatte Ella überreicht, bin jeglichen Chancen aus dem Weg gegangen, dir über den Weg zu laufen und ich habe mir fest vorgenommen Alara endlich zu heiraten und mein Leben weiter so zu führen, wie es geplant war. Ich wollte mich von dir komplett loslösen, aber wie, wenn ich es nicht mal schaffte auch nur ein Foto von uns wegzuwerfen? Wie, wenn ich stundenlang diesen Ring anstarrte und es trotzdem nie hinbekam diesen dämlichen Antrag zu machen? Auch wenn ich alle Dinge verbanne, die mich an dich erinnern und auch wenn ich dich für den Rest meines Lebens nicht mehr treffen sollte, meine Gedanken kann ich nicht löschen. Ich kann meine Erinnerungen nicht löschen und ich kann nicht kontrollieren, dass du dort oben ständig präsent bist." Er tippt sich an die Schläfe und ich sehe in seinen Augen, wie sehr ihn selbst jedes Wort mitnimmt, während mein Kopf wie leergefegt ist. Alles was mir einfällt sind die Parallelen zwischen seinen Worten und meinen Gedanken, die ich dieses Jahr mühsam lernen musste.„Ich hab mir dich so lang ausgeredet und dafür Alara so gut geredet, dass ich mir meine eigenen Lügen irgendwann selbst glaubte. Es hat mich so viel Zeit gekostet an den Punkt zu kommen auf mein Inneres zu hören. Auf mich zu hören und auf das, was ich will. Letztendlich wurde ich kontrolliert von Angst und Schuld. Meine Beziehung zu Alara hat vielmehr auf Schuld basiert, als auf ehrlicher und wahrer Liebe. Ich habe mich schuldig ihr gegenüber gefühlt, weil sie so viel für mich getan hat und ich habe mich schuldig dem Zach gegenüber gefühlt, der doch so unbedingt dieses Mal der perfekte Partner sein wollte. Doch diese graue Wolke, die dich überall hin verfolgt, bringt dir nichts, außer, dass sie dir dein Erleben versaut. Deinem Schuldgefühl ist nicht wichtig, dass du dich für Versagen oder Lügen schämst, sondern dass du dich schämst. Der Inhalt ist komplett beliebig und austauschbar. Schuldgefühle sind eigentlich gar keine richtigen Gefühle, sondern bloß Gedanken. Mentale Bewegungen in meinem Kopf. Ausgedachte Hirngespinste, aber so unfassbar mächtig und die Gefühle, die ich durch diese Schuldgedanken vermeide, sind nicht Wut oder Trauer. Es sind Freude, Lebensenergie und Glück und diese Schuld hindert mich an all dem. Sie sind eine menschliche Erfindung, eine Konstruktion. Und weißt du, was die größte Lüge an diesen Schuldgefühlen ist? Sie sind nicht die Motivation dafür, etwas zu ändern, besser zu machen oder dich weiterzuentwickeln. Sie wollen dich in der Falle, statt in der Freiheit. Sie rauben dir bloß Energie und Lust. Schuldgedanken machen dich nicht zu einem besseren Menschen, denn du lernst nichts aus ihnen. Sie helfen dir nicht, sie meinen es nicht gut mit dir. Ich habe ihnen viel zu viel Raum gegeben und ständig Dinge geliefert, die sie mir dann wieder vorwerfen können, um mich in diesem ewigen Kreislauf zu halten, der sich nicht bessern wird. Ich musste endlich diesen Gedanken loswerden es allen recht zu machen, außer mir selbst. Ich musste aufhören mich an dem Gedanken festzuklammern ich würde alles besser und anders machen wollen als damals, denn die Art und Weise wie ich das tat, machte alles nur noch schlimmer. Ich ritt mich viel weiter in mein Unglück und in das falsche Leben hinein, denn du hattest Recht. Ich ging den einfacheren Weg und lebte das falsche Leben, weil ich Angst vor dem richtigen hatte und das ging auch an Alara nicht vorbei. Sie hat so viel eingesteckt, seit wir uns kennenlernten und ich war ihr verdammt nochmal ein beschissener Partner, obwohl ich so krampfhaft versucht hatte der Beste zu sein. Vielleicht betrog ich sie nicht, so wie dich damals und vielleicht handelte ich nicht so kindisch, wie zu alten Zeiten, doch ich bescherte ihr so ein ständiges Hin und Her, dass auch sie langsam aber sicher daran zerbrach. Als sie sich weinend zu mir auf die Couch setzte und wimmerte, dass sie das mit uns nicht mehr könne, war ich erleichtert. Es mag so unfassbar böse und egoistisch klingen, doch ohne, dass ich Einfluss darauf hatte oder so denken wollte, ich merkte, dass eine Last von mir abfiel. Auch für sie. Ich nahm sie in den Arm, bis sie nicht mehr weinte und der Gedanke, dass sie einen Mann finden würde, der sie so liebt und so behandelt, wie sie es verdient hat, freute mich von Herzen. Ich war ein besserer Mensch geworden und ich behandelte auch sie besser, als ich es bei dir tat, doch auch das war nicht genug. Man muss einen Menschen so lieben wie er ist, mit jeder Facette und mit jedem Fehler, sonst liebt man nur gewisse Eigenschaften. Ich liebte nur ihre Eigenschaften und ich konnte nicht die Konstante für sie sein, die sie brauchte und das hätte ich viel früher einsehen müssen. Als sie auszog war ich ganz allein in diesem Haus und weißt du was? Es war richtig gut so, denn ich wusste, dass ich einiges mit mir allein zu klären hatte. Ich hatte überhaupt nicht den Impuls sofort zu dir zu rennen. Nicht in der Verfassung in der ich war. Ich habe zwei Frauen zutiefst enttäuscht, weil ich nicht im Reinen mit mir selbst war und das ist die aller erste Baustelle. Immer." Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel unterbewusst nach oben ziehen und ich den Blick nicht von seinem Seitenprofil wenden kann. Es ist, als würde ich mich selbst sprechen hören und es berührt mich, weil ich selbst an diesem Punkt war und obwohl ich mich ihm noch nie so distanziert gefühlt habe, verstehe ich ihn besser als kein anderer und der Gedanke, dass wir zur selben Zeit allein dasselbe gefühlt und durchgemacht haben, löst ein verbindendes Gefühl aus. „Als auch sie mit ihren letzten Sachen mein Haus verließ und die Tür hinter ihr zufiel war es endgültig leer in mir, aber weißt du was? Auch das war gut. Das erste Mal hatte ich die Ruhe wirklich auf mich selbst zu hören und ganz allein mit mir selbst auszumachen, was ich möchte und was ich tue. Ich konnte mich ganz allein darauf konzentrieren zu reflektieren, was passiert ist und warum ich wie gehandelt hab und es machte mich sauer, dass ich denselben Fehler begangen habe wie du. Obwohl ich sah, was es angerichtet hatte, tat ich genau dasselbe. Ich stieß dich weg aus Angst und weil ich zu schwach war. Weil ich nicht den Mut aufbrachte alles hinzuwerfen und mich nochmal auf dich einzulassen. Diesmal aber ohne Lügen. Ohne die Gefühle des anderen zu verletzten. Diesmal mit offenen Karten und diesmal ganz ehrlich und ohne Mauern um uns herum. Dass du mir von dem Tag unserer Trennung erzählt hast und was wirklich in dir vorging, als du wieder zu mir zurückkehren wolltest, hat mich total überfordert und mir jeglichen Mut genommen, den ich kurz zuvor noch hatte und ich dachte es wäre besser für uns alle, wenn ich weiter mein Ziel mit Alara verfolge, dabei war es einfach nur egoistisch." Er dreht den Kopf wieder zu mir, erwidert meinen Blick und ich presse den Tulpenstrauß enger an mich, weil ich das Gefühl habe sonst von der Bank zu kippen. Es fällt mir unfassbar schwer zu sagen, was seine Worte in mir auslösen und wie ich mich fühle oder was ich machen will. Umso mehr sehe ich dieses ganz ehrliche Funkeln in seinen Augen. „Irgendwann war ich an dem Punk, dass ich sagen kann ich war mit allem und jedem im Reinen. Zu allererst mit mir selbst, aber auch nach einem wichtigen und letzten Gespräch mit Alara. Ich habe aufgehört mich mit dem zu Quälen was ich getan habe, aber auch mit dem, was mir angetan wurde. Man muss es nicht vergessen oder totschweigen. Man muss sich seiner Fehler bewusst sein, sie reflektieren, annehmen und besser machen. Ich musste aus dem Teufelskreis entkommen mich selbst immer fertig zu machen und die Welt dafür zu hassen, dass dir das damals passieren musste und wie alles gekommen ist. Irgendwann saß ich also da und alles was noch in meinem Kopf war, warst du. Ich wollte dich so gerne in den Arm schließen oder einfach mal wieder sehen. Ich fragte Ella beinahe täglich wie es dir ging und was du gerade so gemacht hast und ich habe eine unfassbare Ruhe und Zufriedenheit in mir gespürt, als sie mir von deiner Wohnung, dem Café und vor allem von deiner persönlichen Entwicklung erzählte. Es klang so perfekt und richtig, dass ich gar nicht dazwischen gehen wollte. Ich wollte dich nicht kontaktieren und negatives in dir auslösen. Bei dir war alles gut genau so wie es war und dafür hast du mich nicht gebraucht. Du warst glücklich und zufrieden und das hat mich glücklich gemacht. Egal wie sehr ich dich vermisste und auch bloß mal wieder sprechen wollte, ich schämte mich dir gegenüber. Ich war ein Grund, warum ein großer Teil von dir zerbrochen ist und ich habe nicht dabei geholfen, es wieder zu reparieren. Deshalb dachte ich, ich hätte es auch nicht verdient dann ein Teil von dir zu sein und überhaupt zu versuchen auf dich zuzukommen. Stattdessen stand ich auf der anderen Straßenseite, als du im Café ein paar Möbel umgeräumt hast. Da wusste ich: obwohl seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, so viel Chaos in meinem Leben und in mir herrschte, dass eine Sache immer konstant da war. Eine Emotion hat mich stets begleitet und war immer in mir, egal wie sehr ich versuchte sie zu verbergen. Und das sind meine Gefühle für dich." Er zuckt mit den Schultern und senkt den Blick, als würde er erwarten, dass ich ihn auslache oder seine Worte nicht ernst nehme. „Natürlich haben sie sich auch oft geändert oder anders angefühlt. Natürlich habe ich während unserer Beziehung andere Liebe empfunden und natürlich war es komisch, dich nach so vielen Jahren wieder zu sehen oder auch jetzt nach einem Jahr. Aber sie waren immer da. Egal wie, auf welche Weise, wie stark oder wo verborgen; sie waren immer da. Meine einzige Konstante." Er beginnt unwillkürlich zu lächeln, als er träumend den Blick durch die Gegend schweifen lässt. Dann streckt er seine Hand aus und es braucht mich ein paar Momente zu verstehen was er möchte und noch mehr Zeit, bis ich meine Hand tatsächlich in seine lege. Er drückt sie leicht und als mein Blick von unseren Händen wieder zu seinem Gesicht wandert, zucken seine Mundwinkel noch weiter nach oben. „Als wir das aller letzte Mal in unserer Wohnung waren hast du mich, ohne eine Antwort zu bekommen, gefragt, was mich denn glücklich mache. Heute kann ich dir antworten. Hier zu sitzen macht mich glücklich. Es macht mich glücklich zu wissen, welchen Weg ich gehen will und im Reinen mit mir selbst zu sein. Es macht mich glücklich endlich dieser Schuld und dieser Angst entkommen zu sein und es macht mich glücklich dir davon erzählen zu können und eine Freude mit deinen Lieblingsblumen zu machen. Es macht mich glücklich, dass du glücklich und geheilt bist. Das ist mein Glück. Ich bin nicht hier, um dich anzuflehen wieder meine Freundin zu sein. Ich bin hergekommen ohne zu wissen, was du fühlst und ob du etwas fühlst. Es könnte einen anderen Mann geben, du könntest gar nichts mehr von mir wissen wollen, nichts mehr als Hass für mich empfinden oder du hättest mir den Strauß um die Ohren schlagen können, ohne mich überhaupt sprechen zu lassen. Das alles wusste ich nicht, doch das alles hätte ich verstanden und das alles hätte ich hingenommen. Ich bin hier, weil ich gehofft habe du würdest mich sprechen lassen und ich bin hier, um Frieden mit dir zu schließen und dir vielleicht Frieden zu schenken, um mit dieser Sache abzuschließen." Für einen Moment wendet er den Blick ab, als müsste er Mut sammeln, sieht mich dann wieder an und er hat selten so schüchtern und nervös geklungen. „Na ja, und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre nicht auch mit der Hoffnung hier hergekommen, dass es noch eine Zukunft für uns gibt. Vielleicht lachst du mich jetzt aus und vielleicht klinge ich verrückt. Ich finde mich selbst verrückt. Wir sind nicht mehr die Menschen von vor einem Jahr. Wir sind auch nicht mehr die Menschen von vor sieben Jahren. Wir haben uns über so eine lange Zeit auseinandergelebt und in andere Richtungen entwickelt. Ich sitze hier vor einer Frau, die nicht mehr der Mila von vor sieben Jahren ähnelt und bin ein Zach, der absolut nicht mehr der von vor sieben Jahren ist und deshalb nenn mich irre, wenn ich sage, ich sehe immer noch eine Chance für uns." Ich schlucke und blinzle so oft, als könnte ich nicht glauben, dass er wirklich vor mir sitzt und sowas sagt. In mir herrscht ein Chaos und gleichzeitig ist es totenstill, während meine Hand in seiner zittert. „Ich weiß wirklich nicht was ich sagen soll." Und das stimmt. Selten in meinem Leben haben mir so die Worte gefehlt, als hätte ich meine eigene Sprache verlernt. „Du hast die letzten Male genug gesagt. Heute war ich dran mit den ehrlichen Worten", sagt er verständnisvoll, doch den erwartungsvollen Ausdruck in seinem Gesicht kann er kaum verbergen. Ich kann nicht viele klare Gedanken fassen, aber nein, ich finde ihn nicht irre. Ich finde es nicht verrückt, was er fühlt und denkt. Ich habe in diesem Jahr gelernt ohne ihn zu sein, aber nicht ihn zu vergessen und das war auch nicht mein Ziel. Es war nicht mein Ziel meine Gefühle für ihn zu vergessen oder zu löschen. Mein Ziel war zu lernen mit ihnen umzugehen. Zu akzeptieren, dass sie da sind, aber er nicht. Ich habe ihn auch nie gehasst, das könnte ich nicht. Um ehrlich zu sein habe ich vermieden über eine Chance, ob und wie man unsere Verbindung noch retten könnte nachzudenken, denn ich habe ehrlich nicht damit gerechnet jemals noch sowas von ihm zu hören. Stattdessen habe ich viel mit mir gekämpft und gegrübelt, ob ich wirklich noch Gefühle für ihn habe oder, ob das einfach Erinnerungen sind, die ich vermisse. Ich habe überlegt, ob ich wirklich ihn vermisse oder nur das schöne Gefühl damals und die alte Zeit. Jetzt weiß ich, dass sie echt sind. Dass meine Gefühle echt und aktuell sind. Es waren keine bloßen Erinnerungen oder der Wunsch nach den vergangen Jahren, in denen alles noch so gut war. Es war und ist Liebe, die etwas verblasst ist, aber nie verschwinden wollte. Er hat Recht. Heute sind wir gar Fremde, doch ich glaube daran, dass sich der Geist und die Seele nie verändert. Wir entwickeln uns weiter, aber wir verändern uns nicht. Wir lernen dazu, handeln gewissenhafter und begehen Fehler nicht nochmal, doch wir bleiben tief in uns immer derselbe Mensch und deshalb fand ich Zachs Gefühlslage zu keiner Sekunde verrückt. Vor meinem Unfall sagte ich, dass das Band zwischen ihm und mir niemals getrennt werden kann. Heute und hier ist es dünner, aber ich spüre es immer noch. „Kurz vor meinem Unfall hat Ella mich nach unserer Streitigkeit aufgemuntert und gesagt Im Endeffekt kommt es darauf an, dass ihr immer wieder zueinander findet und ich denke sie hat Recht. Was zusammen gehört, findet immer wieder zueinander. Wir haben nach jedem Streit, nach jeder Diskussion und nach jedem Fehler wieder zueinander gefunden und wir haben es sogar heute. Nach fünf Jahren Koma, nach acht Monaten Hin und Her und nach einem Jahr Funkstille. Nachdem wir uns so sehr verändert haben. Und ich glaube das bedeutet viel mehr, als man denkt. Du bist nicht verrückt." Mein rechter Mundwinkel hebt sich und Zach atmet kaum merklich tief aus, entspannt seine Körperhaltung und drückt meine Hand ein Stück mehr. Ich mustere unsere verschränkten Finger, lege meine andere Hand auch noch auf seine, atme fest ein, sehe ihn dann wieder an und spreche mit all meiner Ehrlichkeit aus meinem Herzen heraus: „Keiner kann jetzt wissen, wie das mit uns endet oder ob es endet, aber ich bin bereit. Ich bin bereit zu versuchen dieses Kartenhaus wieder aufzubauen, mit allem was ich habe und geben kann und ich möchte, dass wir beide diese zweite Chance, die das Leben mir und uns gegeben hat, nutzen. Richtig zu nutzen. Erst heute sind wir beide an dem Punkt im Leben und mit uns selbst, dass wir auch gemeinsam vorwärts kommen können. Dass wir auch gemeinsam ehrlich und rein sein können. Ich bin mir sicher wir waren schon immer richtig füreinander, doch erst heute ist auch der richtige Zeitpunkt. Heute haben wir die Chance all das besser zu machen, was wir vor sieben Jahren nicht konnten. Heute legen wir all unsere Mauern nieder und schenken uns unsere Herzen ganz ohne Angst und ich weiß genau, dass wir diesmal darauf aufpassen. Ich weiß genau, dass wir heute stärker sind, als jemals zuvor." 

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