11 - Unterschied

56 8 0
                                    

„Hast du schon deine Tabletten genommen?" Meine Mutter greift nach der Teekanne und schenkt sich nochmal nach, während ich nicht einmal einen Schluck genommen habe. Sie mustert skeptisch meine volle Tasse, doch ich lasse mich nicht beirren und kaue weiter auf meinem Toast rum.
„Mhm", erwidere ich kurz und lasse den gestrigen Tag nochmal Revue passieren. Spätestens, als ich mir wieder das Bild der blonden Frau an seinem Schlüsselbund ins Gedächtnis rufe, vergeht mir endgültig der Appetit und ich lege den halben Toast wieder auf den Teller.
„Gehen wir heute gemeinsam in die Kirche?", fragt sie freudig, als wäre die Situation gestern weder zwischen uns eskaliert, noch zwischen Zach und ihr. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sehe ich auf und stütze meine Ellenbogen auf dem Tisch ab.
„Wo wohnt Papa?" Sie hält inne, stellt dann die Tasse wieder ab und weicht meinem Blick aus, den ich nicht von ihr abwende. „Bei seiner neuen Freundin. Ein bisschen außerhalb Berlins, auf einem großen Grundstück", erklärt sie und ich merke, dass sie versucht ihr Bedauern in der Stimme zu verbergen.
„Warst du dort? Hast du sie kennengelernt?" Sie trinkt einen großen Schluck und lehnt sich zurück. „In ihrem Haus war ich nur einmal, aber Jana habe ich öfter getroffen. In der Stadt, mal mit deinem Vater, mal ohne und hin und wieder war sie auch im Krankenhaus, wenn dein Vater dich besucht hat."
Jana. Ich nicke langsam und kann nicht abstreiten, dass mich das verletzt.
„Wie ist sie so?" Ich weiß, dass es eine dumme Frage ist, wenn man bedenkt, dass Jana mehr oder weniger ihren Platz eingenommen hat, doch es interessiert mich wer nun an der Seite meines Vaters ist.
Du bist nicht die Einzige, die ersetzt wurde, Mama, schießt es mir durch den Kopf.
„Sie ist durchaus eine tolle Frau. Sehr hübsch, blondes Haar und eine positive Ausstrahlung. Sie ist zwar auch fünf Jahre jünger als dein Vater, aber sieht für sechsundvierzig noch jünger aus. Auch sonst ist sie sehr höflich und wirkt bodenständig." Es fällt ihr schwer zugeben zu müssen, dass mein Vater anscheinend wirklich eine nette Frau gefunden hat und ich finde es irgendwie schön, dass sie dennoch so positiv über sie sprechen kann.
In dem Fall bist du auch nicht die Einzige, die durch einen blonden Engel ersetzt wurde, Mama.
Ich versuche mir Jana vorzustellen, in einem geräumigen Haus, gemeinsam mit meinem Vater, doch es fällt mir schwer. Es kommt mir vor wie gestern, als ich genau hier meinen Eltern gegenübergesessen bin und an meiner Rechten Zach hockte und sich über das leckere Essen meiner Mutter hermachte. Heute sitzen wir beide wieder hier. Allein, ohne unsere Partner. Verlassen für eine Andere, mehr oder weniger. Wie könnte ich etwas anderes von Zach erwarten. Eigentlich habe ich ihn verlassen.
Ich schlucke schwer.
„Weißt du", beginnt meine Mutter, „du sollst nicht schlecht über deinen Vater denken. Er unterstützt mich weiterhin, auch finanziell. Ich kann mich bei ihm melden, wenn ich Hilfe brauche und du sowieso. Er liebt dich, du bist sein einziges Kind." Ich lehne mich im Stuhl zurück und sehe sie mit leicht schiefgelegtem Kopf an.
„Schön zu hören", beginne ich und für einen Moment lächelt sie, „aber er wollte meine Geräte abstellen. Ihr." Mein Ton ist ruhig, aber bestimmt und innerhalb einer Sekunde verschwindet das Lächeln und die Farbe weicht ihr etwas aus dem Gesicht. Mit dieser harten Wortwahl hat sie nicht gerechnet. Margarethe öffnet mehrmals den Mund, um etwas zu sagen, doch schlussendlich erwidert sie nichts.
Ohne ein weiteres Wort schiebe ich den Stuhl zurück, stehe auf und greife nach meinem Teller und der Tasse.
„Viel Spaß in der Kirche", rufe ich, während ich in Richtung Küche loslaufe. „Du weißt, dass ich da nicht hingehe."

Gedankenverloren lasse ich meinen Blick durch den Kleiderschrank gleiten und beinahe zu jedem Stück fällt mir eine einfache Situation ein, die ich dennoch vermisse. Ich weiß noch wie ich mich aufgeregt habe, als ich Erdbeereis genau auf den weißen Streifen des Shirts getropft habe und Ella lachend den Kopf geschüttelt hat, weil ich grundsätzlich immer etwas verschütten musste.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit dem lila Pullover aus der Kabine kam und Zach bloß den Kopf geschüttelt hat. Der lange Shopping Tag hat ihm zu schaffen gemacht und obwohl er ihn grausam fand, habe ich den Pullover mit Freude gekauft.
Ich muss lächeln, doch als ich die schwarze Jeans in Lederoptik sorgsam gefaltet auf dem Stapel liegen sehe, die Zach so an mir mochte, kommen gemischte Gefühle in mir hoch. Ich trug sie an dem Tag, an dem Zach und ich uns am Mittag bei meinen Eltern in die Haare bekamen. Abends, als wir gemeinsam mit den anderen im Club waren. Als wir Spaß hatten, flirteten, und ich dennoch am Schluss des Abends allein in das Taxi stieg, nachdem ich ihm das erste Mal so richtig meine Zweifel geschildert habe.
Was wären wir ohne all das? Wären wir dann überhaupt noch etwas? Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass ich ihm diese Fragen gestellt habe. Als wäre es gestern gewesen, als ich angefahren wurde, denn da trug ich sie auch. Und tatsächlich hängt wenige Bügel weiter auch der graue Mantel, der mich trotzdem hat frieren lassen, als ich einsam auf dem kalten Teer lag. Langsam fahre ich über den hellen Stoff. Er ist weich, sauber und der angenehme Geruch von Waschmittel steigt mir in die Nase, als wäre er niemals an diesem Abend im nassen Dreck gelegen. Könnte ich meinen Kopf doch auch einmal so durchwaschen.
Erschöpft schließe ich die Schranktüren, drehe ihnen den Rücken zu und lehne mich für einige Momente an. Mein Kopf schmerzt, doch so langsam gewöhne ich mich schon an diesen Dauerzustand. Gähnend hocke ich mich an meinen Schminktisch, den meine Mutter noch für mich bestellt hat und starre in ein glanzloses grünes Augenpaar. Meine Haut fühlt sich trocken an, meine Lippen sind blass und rissig und meine Augenbrauenhaare und Wimpern zeigen in alle Richtungen, wie Unkraut. Augenschatten unterstützen mein krank wirkendes Erscheinungsbild und den viel zu großen Kapuzenpullover habe ich lange nicht mehr gewechselt.
Seufzend greife ich in die Kiste voller Schminke, die noch auf meinem leeren Schminktisch steht und fische einen Haargummi raus, damit ich meine Haare hochbinden kann.
Selbst nachdem die Haustür ins Schloss gefallen ist und ich meine Mutter nicht mehr höre, starre ich mich weiter im Spiegel an. Es ist seltsam. Auf der einen Seite habe ich das Gefühl einer fremden Person entgegenzuschauen, aber andererseits fühle ich mich immer noch wie die Mila von vor fünf Jahren, weil mir die Jahre wie eine einzige Nacht vorkamen. Ich lege den Kopf leicht schief und während mir doch mit jedem Moment klar wird, dass ich eigentlich doch die Mila bin, die ich kenne, baut sich ein Druck in mir auf. Der Druck, dass ich eigentlich anders sein müsste. Dass ich mich eigentlich hätte entwickeln müssen. Dass ich eigentlich heute hier hätte sitzen und denken müssen, dass ich in vielerlei Hinsichten ganz anders bin, wie die einundzwanzigjährige Mila von vor fünf Jahren, weil ich mich weiterentwickelt haben sollte. So wie alle anderen. Doch das habe ich nicht.
Mein Blick fällt auf die Kiste und wenigstens in einer Kleinigkeit unterscheide ich mich. Damals habe ich es geliebt mich herzurichten, sogar so sehr, dass man mich kaum ungeschminkt, nicht nicht mit Bedacht gekleidet oder gar ungepflegt gesehen hat. Und jetzt? Ich erwidere meinen eigenen Blick im Spiegel und hätte beinahe gelacht. Jetzt laufe ich seit Tagen rum, als hätte ich keinen Spiegel und mein Bett nie verlassen. Hast du auch fünf Jahre nicht, kommt es mir in den Sinn und unter anderen Umständen hätte ich auch darüber gelacht. Leider sieht man mir das auch an.
Und während ich einer lebenden Leiche im Spiegel entgegenschaue, die einmal das Leben in Person war, denke ich wieder an den blonden Engel auf der Wiese, mit der natürlichen Schönheit, dem hellen Haar und dem breiten, ansteckenden Lachen. Ob ich überhaupt noch so lachen kann? Mit schmerzender Brust wende ich mich ab und laufe schweren Schrittes zur Tür. Ich lausche nochmal und als ich mir sicher bin, dass sie weg ist, mache ich mich auf die Suche nach dem Sparschwein, das tatsächlich noch an derselben Stelle in der Küche steht wie damals. Ich entlocke ihm ein paar Euro, schlüpfe dann in meine Schuhe und verlasse die Wohnung, um ein Münztelefon zu finden. Obwohl ich mich mitten in Berlin befinde, fühle ich mich wie abgekapselt von der Welt. Ich habe keine Ahnung, wohin Zach gezogen ist, ob Ella noch bei sich zu Hause wohnt, habe kein Handy und auch keinen Computer. Alles, was ich noch im Kopf habe, ist Zachs Nummer. Die Einzige, die ich auswendig kenne. Tatsächlich ist Zach so ziemlich der Einzige auf dieser Welt, der super selten sein Handy wechselt und seine Nummer noch nie. Ich vertraue darauf, dass sich das in den letzten Jahren nicht geändert hat.
Es dauert nicht lang, bis ich eins finde und ich kann es kaum erwarten die Münzen einzuwerfen. Einerseits will ich einfach nur Informationen über alles, was in meiner Abwesenheit passiert ist und will Zach sehen, andererseits wäre ich in Anbetracht der Umstände auch nicht abgeneigt, wenn ich zuerst Ella erreichen könnte. Mit jeder Ziffer, die ich eintippe, werde ich nervöser. „Bitte, bitte, bitte", flüstere ich mir selbst zu und zähle die scheinbar ewig langen Sekunden, bis tatsächlich jemand abnimmt. „Ahrens?", meldet er sich mit seinem Nachnamen und ich seufze erleichtert auf. „Ich wusste es", flüstere ich und atme tief durch. „Hallo? Wer ist da?" „Zach, ich bin es." Für einige Sekunden herrscht Stille und ich frage mich, ob er aufgelegt hat, doch das klirrende Geschirr im Hintergrund beweist mir das Gegenteil. Das Klappern wird immer leiser und ich meine sogar Schritte zu hören, als würde er weggehen. Weg vor seiner Freundin, die entspannt in deren Küche kocht, um nicht vor ihr mit mir zu sprechen?
„Wo bist du, Mila? Wie kannst du mich anrufen?" „Ich benutze ein Münztelefon und habe darauf vertraut, dass du nie deine Nummer wechselst."
Wieder herrscht Stille und ich kann beinahe durch das Telefon hören, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehen und er nachdenkt. „Geht es dir gut? Wo ist deine Mutter?" Die Fragerei lässt mich die Stirn runzeln, doch ich antworte ihm: „Sie ist in die Kirche gegangen." Ob es mir gut gehe ignoriere ich absichtlich, da ich diese Frage nicht mehr hören kann.
„Du hättest nicht anrufen sollen." Obwohl es wie ein Vorwurf klingt, höre ich Bedauern in seiner Stimme, als wolle er das gar nicht sagen. Ich verlagere unbeholfen mein Gewicht vom rechten auf das linke Bein und weiß die Situation nicht so recht zu deuten.
„Ich kann mich sonst an keinen wenden", flüstere ich leise und werde das Gefühl nicht los, dass er am liebsten nichts von mir hören will. Es herrscht Stille und sogar das Geschirr ist nicht mehr zu hören. „Kannst du mich nicht einfach holen? Ich weiß nicht, was ich tun soll." Tränen steigen mir in die Augen und ich fühle mich wie ein nutzloses Kind, das keiner will. Er seufzt auf und scheint mit sich selbst zu hadern, doch als er nach weiteren drei Sekunden nichts sagt, lege ich mit einem lauten Knall auf und stampfe los. Es nervt mich. Seine Reaktion nervt mich ungemein. Wütend kneife ich die Augen zusammen und muss mich richtig beherrschen, ruhig zu bleiben. Ich habe nichts, keine Anhaltspunkte, keine Möglichkeit Ella oder sonst wen zu erreichen. Alles, was ich in diesem Moment wollte, war seine Hilfe.
„Dummer Idiot", murmle ich und streiche mir über die Augen. Wieso kann er nicht in seinen dämlichen Range Rover steigen und zu mir fahren? Wieso kann er nicht bei mir sein und mir helfen? Mich unterstützen? Mein Herz schlägt immer schneller und die Wut kocht weiter hoch.
Erst, als ich mich zu Hause wieder auf das Bett fallen lasse und die Tränen getrocknet sind, verschwindet auch meine Wut gegenüber Zach und wird durch Verständnis ersetzt. Wie schwer muss das auch für ihn sein? Ich darf nicht vergessen, dass ich nicht die Einzige bin, die überfordert ist mit der Situation. Ich komme auf einen Schlag aus seiner Vergangenheit in seine neue Gegenwart und werfe alles über den Haufen. Zach muss sich auch erstmal sammeln und alles verarbeiten. Er muss sich auch erstmal fragen, wie es weitergeht und wie er mich und sein momentanes Leben vereinen kann.
Aber wer sagt, dass er das überhaupt will? Wer sagt, dass er mich überhaupt darin integrieren will? Wer sagt, dass er nicht einfach so weiter machen will, wie in den fünf Jahren ohne mich? Wieso gehe ich ständig davon aus, dass er noch Interesse an mir und meinem Dasein hat? Wieso gehe ich davon aus, dass ich noch Teil von seiner Gegenwart und Zukunft bin?
Weil er meine Gegenwart und Zukunft ist. Weil Zach immer noch der ist, für den mein Herz schlägt. Immer noch der, den ich so sehr liebe, dass es wehtut. Immer noch der, den ich einzig und allein an meiner Seite will und immer noch der, der mir ein besonderes Lächeln ins Gesicht zaubert, was kein anderer kann. Zach ist für mich in meinem Leben immer noch derselbe mit der gleichen Bedeutung und der gleichen Position, aber das heißt nicht, dass es umgekehrt genauso ist, denn eine Sache vergesse ich immer wieder: Er dachte fünf Jahre lang, ich hätte ihn verlassen. Verlassen aus Gründen, die absoluter Schwachsinn sind. Er dachte, ich würde seine Liebe nicht mehr erwidern und hätte ihm eiskalt das Messer ins Herz gerammt. Er dachte, ich hätte mit ihm abgeschlossen. Nein, er denkt es. Er denkt es immer noch, auch jetzt in dieser Sekunde.
Und ich denke, dass er heute, fünf Jahre später, mit mir abgeschlossen hat. Der feine, aber bedeutende Unterschied ist, dass sein Denken dabei auf einer Lüge basiert und mein Denken immer wahrer wird.

KartenhausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt